World Wide Wahnsinn – meine neue Kolumne

World Wide Wahnsinn – so lautet meine neue Kolumne im Magazin Name it, dem Gay Lifestyle Magazin aus Wien, das sich vor allem – aber nicht nur – an ein queeres Publikum wendet. In der Kolumne werde ich Neues, Absurdes, Spannendes, Komisches manchmal Politisches rund um das Thema Internet mit all seinen sonnigen und schattigen Seiten berichten.

In der Sommerausgabe begann es mit einem kleinen Artikel zum damaligen Start von Google+, woraus die Idee entstand daraus eine fixe Kolumne zu gestalten. In der soeben erschienen Ausgabe, die ab sofort in guten Kiosken und in der Szene zu bekommen ist, beleuchte ich die Diskussion rund um die neuen terms of use bei den bei Schwulen beliebten blauen Seiten Gayromeo. Und frage daher mal provokant:

Wem gehört mein Schwanzpic?

Groß war die Aufregung. GayRomeo veröffentlichte neue Terms of use und prompt wunderten sich viele User: Was? Die wollen, dass ich die Fotorechte abtrete? So zumindest wurde es unter Artikel 5.3 der Nutzungsbedingungen geschrieben:
„The user agrees […] he automatically grants PlanetRomeo a […] right to use, reproduce, circulate and make public content […] for PlanetRomeo’s own marketing and/or promotional purposes“.
Und auch die Weitergabe an Dritte wurde da als möglich erwähnt. Ja, das Nutzerverhalten hat sich in den letzten Jahren verändert – Google und Facebook sei Dank. Dating-Plattformen gab es bereits vor Facebook und können als Vorläufer der großen sozialen Medien gelten. Es sind die User, die den Content und die Attraktivität ausmachen. Die Diskussionen, wem dieser von Usern generierte Content dann eigentlich gehört, sind nicht unbekannt und wurden vor allem über Facebook geführt. Dabei wurde auch viel Nonsens berichtet.

Da gab und gibt es Panikmacher auf der einen Seite, die Philosophie, die Welt möge sich doch bitte auf die neuen Medien einstellen (Alles ist öffentlich! Das ist eine Revolution wie damals bei der Erfindung desBuchdrucks!) auf der anderen Seite. Doch wem gehören die Fotos wirklich? GayRomeo machte mittlerweile einen Rückzieher und die Rechte gehören wieder dem Nutzer.

Man muss aber auch Positives erwähnen: Immerhin hat GayRomeo überhaupt Nutzungsbedingungen und macht sich Gedanken. Ihr Verschlüsselungsdienst ist in Ländern, die Homosexualität kriminalisieren, gratis. Und andere schwule Dating-Sites? Da gibt es teilweise gar keine Terms of use. Also User: Seid aktiv, wachsam und fordert. Denn ohne Euch sind Social Media- und Dating-Seiten gar nichts. Und schlussendlich ist es eine (europa-)politische Frage, denn Firmen dürfen nur das, was ihnen Gesetze erlauben. Oder man klagt. Auch wenn es sich um ein Schwanzpic handelt. Immerhin ist es dein Schwanz.

Außerdem im neuen Name it:

Schwule im Iran – Report aus Teheran
Tschüss Jungs – warum Männer ab 40 begehrt wie nie sind
Rosenstolz – Das Interview zum Comeback
Die besten Reistipps für Paris
und vieles mehr…

Die Daten-Kraken.

Facebook hat es geschafft. Rückte in den letzten Wochen und Monaten Google+ in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, wenn es um das Thema Social Media ging, schlägt Facebook zurück. Ein User-Profil auf Facebook wird zunehmend ein Tagebuch des Lebens und nennt sich Timeline. Das ist zumindest die Absicht von Mark Zuckerberg und seiner Plattform, wie er auf der Entwicklerkonferenz f8 in San Francisco bekannt gab. Parallel ziehen derzeit einige österreichische Studenten rund um Max Schrems vor Gericht, um Facebook und die EU-Datenschutzregeln in Einklang zu bringen.

Wie immer, wenn Facebook am Layout bastelt, sind User und Userinnen verunsichert. Die Frage, ob Facebook für oder gegen seine rund 750.000.000 Nutzer und Nutzerinnen agiert, ist Thema seit es Facebook gibt.

In seinem heutigen Kommentar in der Futurezone geht Gerald Reischl unter dem Titel „Grusel-Mark“ will unser Leben mit Facebook hart ins Gericht. Und man erinnert sich an viele Diskussionen um Google, denn auch diese für seine Privacy-Politik bei Google+ gelobte Firma gilt immer noch als Daten-Krake.

Doch sind es tatsächlich Unternehmen wie Facebook und Google, die das Problem darstellen? Oder zeigt nicht Max Schrems, wohin der Weg führen kann? Oder muss? Denn immerhin sind es Gesetze, die Firmen das Datensammeln erlauben! Und auch Behörden und der Staat haben bekanntlich zunehmend das Bedürfnis Daten zu sammeln. Andererseits helfen Verbote, die das Internet nutzen einfach und hilfreich gestalten auch wenig, wie Helge Fahrnberger in einem Tweet mir gegenüber aufmerksam machte.

Vermutlich werden zukünftig beide Strategien von Datenschützern und -schützerinnen begangen werden müssen: Die Kraft der Gesetze einerseits (die aber dann auch nur funktionieren können, wenn sie global gelten). Und andererseits die Macht der Konsumentinnen und Konsumenten.

Was uns die Diskussion aber vor allem zeigt: Social Media ist ein so neues Medium, das wir immer noch in der Beta-Phase stecken und wohin der Weg führen wird, ist noch vollkommen unklar. Aber besser wir gestalten diesen Weg, als dass er einfach nur passiert.

Erste Tests von Google+ überzeugen. Sehr sogar.

Es gab immer wieder Social Media-Kanäle, die groß angekündigt wurden, aber die sich nicht durchsetzen konnten. Social Media ist in erheblichem Ausmaß eine Glaubensfrage. Glaubt man nämlich an eine Plattform, nimmt man teil. Glaubt man nicht daran, nimmt man nicht teil, löscht das Profil nach kurzer Zeit wieder oder man bleibt eine inaktive Profilleiche. In den letzten Jahren gab es einige Startversuche. Da gab es etwa Diaspora, auf das viele User und Userinnen warteten, über das viel gebloggt, getwittert, diskutiert und herbeigesehnt wurde. Mittlerweile wird Diaspora aber kaum noch als ernsthafte Konkurrenz zu Facebook wahrgenommen, weil es seit Monaten nur als Betaversion herumdümpelt. Google selbst launchte in den letzten Jahren gleich zwei Flops: Wave und Buzz. Jetzt aber startet Google mit einem neuen Dienst, nennt es Google+. Und diesmal sieht es so aus, als sei Google damit ein richtig großer Wurf gelungen. Ich hatte in den letzten zwei Tagen Gelegenheit die Betaversion von Google+ zu testen.

Google+ und seine Circles:

Schauen wir uns die zwölf wesentlichsten Features von Google+ an und die Unterschiede zu anderen Netzwerken:

Kreise aka Circles: Die wichtige Neuerung sind die Kreise oder Circles. Ohne diese zu verstehen, kann man die überzeugenden Stärken von Google+ nicht beschreiben. Man fügt nämlich Menschen selbst Kreisen hinzu. Dabei entscheidet man selbst in welche Kreise diese mittels Drag & Drop hinzugefügt werden (Freunde, Familie, Bekannte, usw.) oder man kreiert neue Kreise. Diese Hinzugefügten müssen aber nicht zwangsläufig „retourkreisen“. Hier ähnelt Google+ vielmehr Twitter als Facebook. Auf Facebook geht eine Freundschaft bekanntlich nur wechselweise. Auf Twitter entscheidet jeder User selbst, wem er folgt. Egal ob dieser retour folgt oder nicht. Wegfallen wird bei Googles Dienst wohl auch die 5000-Freunde-Grenze, wie sie wir von Facebook kennen. Gerade für in der Öffentlichkeit stehende Menschen eine äußerst interessante Tatsache.
Beiträge schreiben funktioniert ganz ähnlich wie wir es von Facebook gewöhnt sind. Nur kommen auch hier die Kreise zum Zug! Poste ich eine Meldung kann ich jedes Mal selbst entscheiden für wen diese Meldung sichtbar sein soll: Öffentlich bedeutet, dass jeder im Web den Beitrag lesen kann. Oder aber ich wähle einen, mehrere oder alle Kreise aus (oder auch einzelne Personen). Dann ist der Beitrag nur für diese sichtbar. Hier achtet Google+ wesentlich mehr auf Privatsphäre als Facebook. Es ist aber auch nicht prinzipiell alles öffentlich, wie es auf Twitter der Fall ist (außer man hat seine Tweets geschützt).
Eine Pinnwand à la Facebook gibt es nicht. Das bedeutet, dass ins Profil Anderer schreiben (vorerst?) nicht möglich ist. Dafür sind Beiträge – wie oben beschrieben – für ausgewählte User möglich.
Hangout: Nicht nur mit Facebook und Twitter scheint Google+ in Konkurrenz zu treten, sondern auch mit Skype. Nachdem man ein Plugin installiert hat, kann man Videokonferenzen mit einer oder mehreren Personen durchführen.
Sparks ist ein gutes Beispiel, wie Google seine Stärken ausspielen kann: Abonniert man nämlich Neuigkeiten aus aller Welt zu bestimmten Themen, werden diese im Stream angezeigt. Etwa wenn man alles Neue über einen gewissen Fußballklub abonniert, werden die Nachrichten über den Verein automatisch geliefert.
Benachrichtigungen kommen in Echtzeit. Und rot bleibt die Farbe dafür. Rechts oben erscheint eine Zahl. Darin enthalten Hinzufügungen zu Kreisen anderer User, Kommentare auf eigene Beiträge, usw. Das feine daran: Ich muss nicht draufklicken, um es im Browserfenster anzeigen zu lassen, sondern kann mir gleich im Nachrichtenfenster alles durchlesen und anschauen, und auch Menschen retour in meine Kreise hinzufügen, falls ich das denn möchte. Im Hauptfenster bleibt alles, wie es war.
Den Chat habe ich persönlich noch nicht probiert. Aus Userkommentaren und Onlineberichten war zu vernehmen, dass dieser offenbar noch nicht sehr stabil ist.
Leichter Zugriff und Verquickung zu anderen Google Diensten: Ob Websuche, Google News, Picasa für Fotos, Gmail für Emails, ob Google Kalender oder Google Docs: Mit einfachen Klicks und übersichtlich sind alle Dienste rasch verfügbar und verknüpfbar. Anzunehmen, dass Google hier seine Stärke erst noch so richtig ausspielen wird.
Google+ Mobile: Mit seiner eigenen Smartphone OS Android kann Google besonders punkten und bietet zusätzliche Dienst an: Fotos uploaden etwa oder Huddle, mit der man Gruppenchats und SMS verknüpfen kann und Unterhaltungen bequem durchführen kann. Für iPhone-User steht bereits eine Web-App zur Verfügung. An einer eigenen App wird bereits gebastelt. Besonders Facebook zeigt in diesem Bereich nach wie vor erhebliche Mängel.
+1 ist quasi Googles Antwort auf Facebooks „Like“ und gibt es schon länger. Allerdings kann +1 mehr. Webinhalte, die einem gefallen, können damit markiert werden und jederzeit in eigenen Listen sichtbar bleiben. Sie verschwinden nicht im bald historischen Stream. Beiträge anderer User sowie Kommentare können auch mit +1 markiert werden. Wie diese den Stream beeinflussen werden, bleibt noch abzuwarten. Es steckt jedenfalls viel Potenzial darin. Mal sehen, ob sich Google da noch etwas Spannendes ausdenken wird.
Share Funktionen gibt es freilich auch in Googles neuem Plus. Videos, Links und andere Webinhalte können gestreamed werden. Diese Postings können von anderen Usern wiederum weitergetragen werden. Was übrigens auch auf Kritik stieß, denn Inhalte, die man nur einem kleinen Kreis zur Verfügung stellte, können so möglicherweise Menschen erreichen, die man gar nicht erreichen wollte. Daran wird Google wohl noch arbeiten müssen. UPDATE 2.7.: So schnell geht das bei Google: Man hat darauf reagiert und nicht öffentlich gepostete Meldungen können mittlerweile auch nicht mehr öffentlich weitergereicht werden (siehe öffentliches Posting von Matt Waddell auf Google+ hier).
Das Überzeugendste an Google+ ist wohl das Design, was nicht weiter wundert, wen man weiß, dass niemand geringerer als Andy Hertzfeld, der frühere Apple-Design-Guru, für Google+ verantwortlich ist. Klare Strukturen, übersichtlich und luftig weiß Google+ tatsächlich zu überzeugen.

 

Google+ Circles - einfach durch Drag & Drop zu organisieren!

Fazit

Zuallererst ist Google+ erst eine Betaversion. Es wird sich wohl noch Vieles ändern und noch mit Einigem überraschen. Kinderkrankheiten sind da, aber dafür gibt es ja die Betaversion.

Nichts ist unberechenbarer wie User und Userinnen im Netz. Wird ein Produkt angenommen? Man kann es nicht vorher sagen. Wird es vielen Menschen leicht fallen, Facebook zu verlassen? Leicht ist bestimmt was anderes. Wohin die Reise von Google+ führen wird, bleibt interessant. Manches kann erahnt werden, vieles muss vorerst unbeantwortet bleiben. Aber das Potenzial ist da. Google+ weiß zu überzeugen.

Google+ setzt dort an, wo Facebook vergaß sich weiterzuentwickeln. Fügte man in den frühen Facebook-Zeiten unbedacht die Freunde einfach hinzu, sind viele bislang überfordert diese zahllosen und diversen Menschen – von der Oma bis zum Arbeitskollegen, vom Intimfreund bis zum Nachbarn – in komplizierten Listen zu organisieren. Google+ löst dieses Problem durch seine obligatorischen Circles.

Ob Apps, Einbindungen von anderen Kanälen wie Twitter und Co. erwünscht sind, darauf wird wohl jeder anders antworten. Fakt ist, dass die Freiheit von Farmville und anderen Spiele-Apps, lästige Quizfragen und anderen ungefragten Features vielen gefällt. Dass Google Games aber wohl geplant sind, berichtet Engadged. Ob das die Massen begeistern wird, bleibt vorerst offen. Eine Developer-Seite gibt es jedenfalls schon. Es ist wohl zu erwarten, dass da noch Einiges auf uns zukommt.

Firmenseiten oder Gruppen gibt es (noch) nicht. Ob diese einfach Profile machen werden, oder anders kommunizieren werden (oder auch gar nicht) wird ebenfalls abzuwarten sein. Für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, bieten die Kreise (und die dadurch obsolete Grenze an Freunde wie bei Facebook) jedenfalls neue Möglichkeiten. UPDATE 2.7.: Google hat mittlerweile bekannt gegeben, dass es demnächst auch Firmenseiten geben wird, allerdings würden sie derzeit in der Testphase nur persönliche Profile erlauben (siehe Artikel hier).

Der Stream hat für alle, die derzeit Google+ testen eine noch nicht ganz nachvollziehbare Reihenfolge. Kürzlich kommentierte Beiträge rücken im Stream wieder  nach oben, beim Neuladen ist es wieder die Reihenfolge der ursprünglichen Postings, die den Stream organisieren. Das ist jetzt auch nur meine Vermutung. Das jedenfalls verwirrt noch sehr.

Direkte Nachrichten zu einer oder einigen wenigen Personen sind nur über die Beiträge möglich. Da gibt es aber keine Garantie, dass diese Personen das dann auch lesen. Möglich, dass Google hier Gmail noch stärker einbauen wird. Ebenfalls sind Events (noch?) nicht eingebaut, wobei sich das mit Google Kalender wohl hervorragend integrieren lassen würde.

Die Intention von Google bleiben abzuwarten. Wird Google+ eine eigene Plattform bleiben, die man ansurft, oder wird sie demnächst auf Websites integriert werden können? Letzteres ist gerade bei Google, das bekanntlich auch YouTube besitzt, eine mehr als denkbare Variante und wäre ein frappante Änderung zu Facebook. Wenn es denn überhaupt so weit kommen wird.

Ein Nachteil ist sicher der Ruf Googles als Datenkrake, wobei Facebook mittlerweile diesem Ruf um nichts mehr nachsteht. Fakt ist aber, dass Google auf Privatsphäre mehr Wert legt und der User tatsächlich mehr darauf achten muss, wem er welche Inhalte zur Verfügung stellt. Über Datenschutz-Fragen müsste aber ohnehin ein eigener Blogbeitrag geschrieben werden, da es sich hier wohl doch vielmehr um eine politisch-legistische Frage handelt.

Und am Ende noch zwei kleine Features, die mir aber sofort auffielen und mir im einen Fall wirklich gefiel und im anderen Fall überraschte:

Beiträge sowie Kommentare sind nachträglich editierbar. Tippfehler oder andere Korrekturen sind also nachträglich möglich. Facebook erlaubte das erst seit kurzem, aber nur wenig überzeugend und zeitlich sehr eingeschränkt.

Und der andere Unterschied?

Facebook duzt. Google+ siezt.

Lev Raphael – Winter Eyes. Eine Rezension mit facebook Interview.

Vor einigen Tagen erschien der Frühlings-Katalog der Buchhandlung Löwenherz, dem Buchladen für Lesben und Schwule. Dieses Mal durfte ich (wieder mal) den Gast-Rezensenten spielen. Unter der Rubrik „Löwenherz KundInnen empfehlen“ schrieb ich über den Roman Winter Eyes von Lev Raphael.
Das Außergewöhnliche an dieser Rezension, war aber die Entstehungsgeschichte. Ich habe hier bereits vor einigen Monaten rechts einen kleinen Hinweis auf dieses Buch unter „Was ich lese“ geschrieben. Dann meldete sich Lev Raphael höchstpersönlich. Mittlerweile sind wir facebook-Freunde – und so konnte ich doch eine wohl eher ungewöhnliche Rezension schreiben. Denn manches fragte ich ihn einfach über facebook. Rezension 2.0 soszusagen,

Lev Raphael – Winter Eyes
Coming-out-Romane gibt es in unzähligen Variationen. Viele davon sind eindringlich, erinnern den schwulen Leser oder die lesbische Leserin an eigene Erfahrungen, viele sind aber auch schlicht langweilig, manche sind dafür (mehr oder weniger) komisch, andere wiederum aufdringlich moralisierend. Das Genre des Coming-out-Romans ist wohl einer der häufigsten Varianten queerer Literatur überhaupt. Lev Raphael gelang trotz dieser Vielzahl an Büchern etwas ganz besonderes: Ein Coming-out-Roman, der weit über das Genre hinausgeht und eindrucksvoll unmittelbar erzählt wird; eine Geschichte, die in bewegender Weise die Lebensumstände einer jüdischen Familie aus Polen in den USA erzählt. Als ich vor einigen Wochen auf meinem Blog eine Notiz über den Roman schrieb, bekam ich überraschend eine Email von Lev Raphael. Mittlerweile sind wir auf facebook befreundet, unterhielten uns dort über das Buch, und so ist es mir möglich auch Lev Raphaels Stimme in diesen Artikel einfließen zu lassen.
»Winter Eyes« erschien in den USA bereits 1992, wurde aber erst vor kurzem in der deutschsprachigen Übersetzung von Paul Lukas im Parthas Verlag veröffentlicht. »Mitte der 90-er Jahre wollte der Rosa Winkel-Verlag das Buch bereits übersetzen«, so erzählte mir Lev Raphael, »aber irgendwie wurde da nichts draus, was aber nicht weiter schlimm war, denn Parthas hat dieses und gleich zwei weitere Bücher gekauft und wird im Herbst auch das neue Buch herausbringen.« Dass »Winter Eyes« im deutschsprachigen Raum euphorischer angenommen wurde, erzählte mir Lev Raphael ebenfalls.
Stefan heißt die Hauptfigur in »Winter Eyes« und ist ein pubertierende Junge im New York der 50-er und 60-er Jahre. Er wohnt bei seinen Eltern, von denen er nicht sehr viel weiß. Nur dass sie aus Polen stammen, ist ihm bekannt. Und dass sie mehrere Sprachen sprechen, ist ihm auch aufgefallen. Deutsch allerdings ist keine gute Sprache, so erfährt er bald. Stefans Onkel Sasha spielt leidenschaftlich gerne Klavier und hat eine etwas herzlichere Art als Stefans Eltern. Bald entdeckt Stefan seine Liebe zur Musik und lernt bei seinem Onkel das Klavierspiel, geht mit in Konzerte und hört viel Radio. Eines Abends lauscht er dort wunderbarer Musik und versteht nur, dass es sich um »Winter Eyes« gehandelt hat. Ein Hörfehler, denn der Moderator nannte »Die Winterreise«.
Die Perspektive bleibt im gesamten Buch die Stefans. Genau das macht die Einzigartigkeit des Romans aus. Kein einziges Mal, keine einzige Zeile lang, erlag der Autor der Versuchung, diesen Erzählblick zu verlassen. Die Geschichte entfaltet sich ausschließlich aus den Augen eines 15-Jährigen. »Jedes Buch verlangt viel Disziplin und Hingabe. Es ist, als ob man sich selbst einem anspruchsvollen Liebhaber hingibt. In jedem Buch nimmt man eine handelnde Person an und geht mit ihm auf eine Abenteuerreise«, erzählte mir Lev dazu. Die Eltern Stefans leben sich auseinander. Dass die Eltern etwas verschweigen, spürt Stefan schon lange, dass die Familie aber als Ganzes zusammenbricht, damit hatte er nicht gerechnet. Zu aller Überraschung entscheidet sich Stefan bei seinem Onkel Sasha zu wohnen. Der hat die italienische Familie del Greco als Nachbarn und schnell freundet sich Stefan mit Louie an. Die Freundschaft wird körperlich. Stefan hat bei den de Grecos aber nicht nur seine ersten sexuellen Erfahrungen. Das Familienleben mit Vergangenheit – überall stehen Fotos von Großeltern herum  – ist ebenfalls etwas Neues. Diese Erfahrung kennt Stefan ebenso wenig, wie die körperliche Berührung eines anderen Jungen.
Eines Tages besucht Stefan seinen Vater in Michigan, der dort eine Karriere als Universitätsprofessor begann. Dort offenbart ihm sein Vater die Wahrheit: Stefan ist ein Jude. Die Familie floh aus Polen, nachdem sie die Gräuel des Nationalsozialismus und ihren Konzentrationslagern entronnen sind. Sie hätten Stefan nie etwas erzählt, weil sie ihn vor dieser Vergangenheit beschützen wollten. Für Stefan gerät die Welt aus den Fugen.
Wie autobiographisch ist die Geschichte Stefans eigentlich? Lev Raphael ist schwuler und jüdischer Autor. Stefan ein jüdischer Junge mitten im Coming-out. Lev dazu: »Es ist sehr viel und ganz wenig autobiographisch. Ich war kein Einzelkind. Ich hatte nicht so früh Erfahrungen mit anderen Jungs. Meine Eltern waren nicht geschieden. Ich spielte kein Klavier. Ich war nicht so ernst. Aber ich gab Stefan das Haus und die Nachbarschaft, wo ich aufwuchs. Ich verortete das Buch in dieser physischen und emotionalen Realität. Es gibt auch hie und da andere Parallelen. Ich habe ihn mir als ein alternatives Ich vorgestellt. Was wäre aus mir geworden, wäre ich kein Autor, hätte ich keinen Humor, keine guten Freunde, die mir halfen erwachsen zu werden.«
Das Erwachsen-Werden ist für Stefan immer schwieriger. Konfrontiert mit seiner jüdischen Identität und dem jahrelangen Verschweigen misstraut er alles und jedem, auch seinem Onkel. Stefan muss allein mit sich zurecht kommen. »Winter Eyes« beinhaltet zwei Hauptmotive. Einerseits fesselt die Familiengeschichte, die Verdrängung des Holocausts, des Opferseins und nicht mehr Opfer sein wollen.  Die Verdrängung hat zur Folge, dass die Normalität einer durchschnittlichen amerikanischen Familie ein erklärtes Ziel der Familie ist, woran sie schlussendlich auch scheitert. Andererseits ist die sexuelle Entwicklung ein Leitmotiv des Romans.
War es schwer, diese zwei Themen miteinander zu verknüpfen oder sah Raphael dabei sogar Parallelen, zum Beispiel was Verdrängung oder Identitätsfragen betrifft? »Viele von uns, die schwul sind, spielen eine andere Rolle bis sie ihr Coming-out haben. Da gibt es also diese Trennung zwischen Schein und Wirklichkeit. So wie die Familie, die ihre jüdische Herkunft versteckt und die Nichtjuden mimen, während Stefan herausfinden möchte, wer er ist. Und das in einer Zeit, in der Schwulsein nicht leicht war. Die zwei Themen komplizieren und ergänzen sich.«
Lev Raphael schreibt zur Zeit am Buch »My Germany«, das im Herbst auch in Österreich erhältlich sein soll und lernt zur Zeit intensiv Deutsch, daher schreibe ich ihm auf facebook immer alles auf Deutsch, die Antworten kamen auf Englisch: »Das Buch handelt darüber wie Deutschland mich mein ganzes Leben lang verfolgte – oder besser: die Idee eines Deutschlands, das meine Karriere und meine Identität stark prägte. Danach reiste ich auch drei mal hin. Ich würde gerne eines Tages mehr Zeit dort verbringen, dort leben und es erleben, nicht nur als Tourist. Ich wuchs in einer deutsch-jüdisch geprägten Nachbarschaft auf und hörte um mich herum immer Deutsch. Als ich also das allererste Mal nach Deutschland reiste, fühlte ich mich vertraut – nein, mehr als das: ich fühlte mich behaglich. Das war eine angenehme Überraschung! Also lerne ich jetzt Deutsch, weil es mich fasziniert, weil ich mehr als nur Touristen-Deutsch können möchte. Ich möchte die Fähigkeit haben, auf Deutsch Konversation zu betreiben und Interview-Fragen auf Deutsch lesen, aber diese nicht auf Englisch beantworten zu müssen.«
Lev Raphael: Winter Eyes.
Dt. v. Paul Lukas, D 2006, 339 S.,
geb., € 24.70
Online bestellbar HIER.