עזרא Esra (Hebr.) = Hilfe

Zum Abschluss des Gedenkjahres haben die Grünen Wien in ihrer Ausgabe der Zeitung Wien direkt einen Artikel von mir veröffentlicht, den ich hier online stelle:
 
 
Im Schatten lauter Gedenkveranstaltungen arbeitet eine Initiative, die Opfer des Nationalsozialismus hilft.

Esra ist hebräisch und bedeutet frei übersetzt „Gottes Hilfe“. Am bekanntesten ist der Name durch das Buch Esra im Alten Testament, aber auch im Koran findet er Erwähnung. Esra war Nachfolger des Hohepriesters Aron und lebte nach der Zeit der babylonischen Gefangenschaft und der Zerstörung Jerusalems. Im Jahr 458 v.Chr. zog Esra mit Vollmachten des Perserkönigs Artaxerxes nach Jerusalem und nahm 1.496 Menschen in die alte Heimat mit. Er schaffte neue Rechte und Strukturen in der wieder aufzubauenden Jerusalemer Gemeinde und half maßgeblich mit, Exiljuden zurück nach Jerusalem zu bringen. 

2.400 Jahre später

Die jüdische Gemeinde Wiens galt im 19. Jahrhundert als besonders liberal und assimiliert. Sie war fester Bestandteil der Wiener Gesellschaft. Ihr Erfolg versprechender Weg, der in der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, führte 1938 in die Katastrophe. Zahlreiche Nachkommen empfanden sich nicht mehr als Jüdinnen und Juden. Manche konvertierten zum Christentum, viele empfanden sich als ÖsterreicherInnen und WienerInnen und fühlten sich durch die Nationalsozialisten nicht gefährdet. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland brauchten die Verbrecher des Hitler-Regimes aber nur wenige Wochen und Monate, um Vermögen zu beschlagnahmen, Menschen in Konzentrationslager zu transportieren und sie bestialisch zu ermorden. Nur wenige überlebten oder konnten fliehen. Tempel und Bethäuser fielen 1938 den Verwüstungen der Novemberpogrome zum Opfer.

Notwendige Hilfe

Aus historischen Ereignissen kann die Menschheit bis heute lernen. In der Antike brauchte es nach der babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volkes Strukturen und Rechte, um Jüdinnen und Juden aus dem Exil zurück nach Jerusalem zu bringen. Esra war derjenige, der diese Aufgabe übernahm. Er gründete eine neue jüdische Gemeinde.

In Österreich gab es nach 1945 nur wenig derartige Unterstützung. Zahlreiche umstrittene Restitutionsfälle, mangelnde Einladungen, die alte Heimat wiederzusehen bzw. in sie zurückzukehren, sowie die fehlende Hilfe für NS-Opfer beschäftigen das Nachkriegsösterreich bis heute.  Die unterbliebene Unterstützung zeigt sich auch im erbärmlicher Umgang mit kulturhistorischen Stätten jüdischen Lebens – insbesondere den alten jüdischen Friedhöfen.

Es bedurfte wieder eines Esra, um Menschen zu helfen, die verfolgt worden waren und traumatische Erfahrungen gemacht hatten. ESRA ist in diesem Fall kein Mensch, sondern ein psychosoziales Zentrum, das seit 1997 an jener Stelle angesiedelt ist, an der sich einst die größte jüdische Synagoge befand: in der Tempelgasse 5 im 2. Wiener Bezirk. Bis zu seiner Gründung war es aber noch ein schwieriger Weg. Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) sah sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Es galt sowohl die Folgen der Katastrophe der Shoah von 1938 bis 1945 als auch die in den 70er Jahren einsetzende Migration von vor allem sowjetischen JüdInnen zu bewältigen. 

Das psychosoziale Zentrum ESRA

ESRA wurde nach vielen Jahren der Vorbereitung 1994 gegründet. Mit Unterstützung der Republik Österreich und der Stadt Wien schuf die IKG damit eine innovative und moderne Form ihrer Sozialarbeit. Sie deckt nicht nur die bisher geleistete Sozialarbeit der jüdischen Gemeinde ab, sondern kann darüber hinaus auf die vielfältigen psychischen, sozialen, integrationsspezifischen und rechtlichen Fragen Einzelner eingehen. ESRA kann Menschen nach ihren jeweiligen individuellen Bedürfnissen betreuen.

Holocaust-Überlebende finden in der Tempelgasse (bei Gebrechlichkeit auch zuhause) besonders umfangreiche Unterstützung in Form von  Sozialarbeit, Hilfe im Alter oder rechtlichen Auskünften zu Restitution und Entschädigungsansprüchen. Erfahrung und der Umgang mit Überlebenden der Shoah – und die damit verbundene Traumaforschung sowie der sozialarbeiterischen Umgang mit traumatischen Katastrophen – sind besonders hervorzuhebende Qualitäten von ESRA. Die Erfahrungen des psychosozialen Zentrums der IKG haben sogar dazu geführt, dass ESRA auch bei Katastrophen wie dam Lawinenunglück in Galtür, beim Seilbahnunglück in Kaprun, bei der Tsunami-Katastrophe in Asien und beim Geiseldrama von Beslan helfen konnte. ESRA verfügt über einzigartiges Wissen sowie über kompetente und multilinguale MitarbeiterInnen aus den Bereichen der Medizin, Psychologie und Sozialarbeit.

Das Zentrum ist in zwei Hauptbereiche eingeteilt: Die Ambulanz, als erste Säule, bietet medizinische, therapeutische und pflegerische Angebote. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Betreuung und Behandlung von jüdischer MigrantInnen und Holocaust-Überlebenden. ESRA legt besonderen Wert darauf, dass nicht nur jüdische NS-Opfer behandelt werden, sondern dass alle Opfer des Terrorregimes Hitlers betreut werden. Auch Roma und Sinti, politisch Verfolgte, Kärntner SlowenInnen, Opfer der Euthanasie, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und andere. Zur Ambulanz gehört sowohl die neurologische  als auch die psychosoziale Behandlung und Beratung, allgemein-medizinische Hilfestellungen, Betreuung durch diplomiertes Pflegepersonal, Psychotherapie, Traumabehandlung, Supervision, psychologische Betreuung und Behandlung, Palliativ-Behandlung und -Beratung sowie eine Memory Clinic.

Die zweite Säule ist die Sozialberatung. Diplomierte SozialarbeiterInnen bieten mannigfaltige Betreuungsformen an, unter anderem Hilfe in der Integration von MigrantInnen, Hilfe bei Entschädigungsansprüchen (Opferfürsorgegesetz, Entschädigungen aus Deutschland, Pensionsansprüche, usw.), Unterstützung im Alter (Vermittlung sozialer Dienste, Pflegegeldanträge, Tagesheimstätten, Vermittlung von SeniorInnenwohnheimen und Pflegeheimen, usw.), Hilfe bei Wohnungsangelegenheiten (z.B. Beratung zur Erlangung von Gemeindewohnungen), Hilfe bei finanziellen oder familiären Problemen, sowie eine Rechtsberatung.

Abgerundet wird das Angebot durch gesellschaftliche und kulturelle Angebote. Am Mittagstisch kann um wenig Geld ein koscheres Menü eingenommen werden, im Café kann bei koscherem Kuchen, Kaffee und Tee mitunter auch die eine oder andere Ausstellung mit Kunstwerken bewundert werden. Im Sommer 2008 fand ein spezielles Sommerkino statt. 

 

Gedenkjahr 2008 und ESRA

Das offizielle Österreich gedachte im Jahr 2008 der Ereignisse vom 12. März 1938 und deren katastrophalen Folgen. Dabei wurden bei Gedenkveranstaltungen seltsame Sachen gesagt, Österreich als Opfer stilisiert oder eine Menge Geld in Events investiert. Im Schatten dieser pompösen Selbstdarstellungen arbeitet ESRA weiter – still aber effektiv.

Daher ist es Zeit, ESRA besonders hervorzuheben, denn die Erfahrungen und wissenschaftlichen Ergebnisse dieser einzigartigen Einrichtung führten zu einer Kompetenz, die in Österreich ihresgleichen sucht. Denn Hilfe heißt auf hebräisch Esra und kommt schlussendlich allen zugute.

Psychosoziales Zentrum Esra
Tempelgasse 5, 1020 Wien
www.esra.at
(Bei Besuchen aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen bitte Ausweis mitnehmen)

 

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