Warum wählen wir Regierung und Parlament nicht getrennt?

Wer gestern Abend die Sendung Bürgerforum im ORF zum Thema Korruption gesehen hat und aufmerksam aktuelle Kommentare in Zeitungen, im Internet oder aktuelle Bücher verfolgt, Initiativen von Bürger_innen und Altpolitiker_innen wahrnimmt, wird zweifelsfrei feststellen, dass sich Österreich (und andere Länder) in einer veritablen Demokratiekrise befinden. Bürger und Bürgerinnen haben nicht mehr den Eindruck, dass Volksvertreter_innen auch das Volk wirklich repräsentieren und unser System mehr dem Machterhalt der Parteien selbst dient, lieber das eigene Klientel bedient wird und Korruption und Eigeninteresse im Vordergrund stehen. Das wirklich gefährliche daran ist das „in einem Topf werfen“, denn auch fleißige und bemühte Menschen in der Politik werden mittlerweile misstraut.

Auch ich gehöre zu den Menschen, die diese Entwicklung mit Sorge betrachtet. Allerdings habe ich mich nicht mit Staatstheorien und den dazugehörigen Schriften beschäftigt wie Politologen oder andere Politiker_innen, aber ich mache mir eben Gedanken, wie viele andere Bürger und Bürgerinnen. Und ich habe ja auch mal die Perspektive der Legislative auf Landesebene miterlebt. Schon damals spürte ich, dass da was nicht stimmt… Deshalb hier meine ganz persönliche Ansicht:

Gewaltenteilung

Wir haben John Locke und Charles de Montesquieu viel zu verdanken. Sie waren die ersten Aufklärer am Ende des 17. bzw. im 18. Jahrhundert, die eine Gewaltenteilung für ein Staatswesen für wichtig erachteten. Dieser Gedanke setzte sich in der Aufklärung und allem voran in der Französischen Revolution durch. Es war dies die Antwort auf den in Europa noch vorherrschendem Absolutismus. Dem setzten die Aufklärer Kontrollinstanzen entgegen, die jeweils die Macht des Anderen kontrollieren und somit verhindern, dass eine Macht die absolute Macht erhält. So entstand die Trennung von Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Rechtsvollziehung) sowie Judikative (Rechtssprechung). Seither gehört die Gewaltentrennung zum modernen demokratischen Staat. Andere Stützen, etwa die freie Presse, NGOs oder Interessensvertretungen kamen hinzu. Wie diese Gewaltentrennung jedoch heutzutage organisiert wird, ist von Land zu Land unterschiedlich.

Präsidentielles und parlamentarisches System

Am berühmtesten sind die Unterschiede von präsidentiellen Systemen, wie sie aus Frankreich oder den USA bekannt sind. Oder den parlamentarischen Systemen, wie wir sie etwa in Deutschland und Österreich kennen. Viele Kritiken sind an beiden System bekannt: Das präsidentielle System ist oftmals mit einem Mehrheitswahlrecht statt einem Verhältniswahlrecht verknüpft. Letzteres – auch von mir als gerechter empfundenenes Wahlrecht – findet sich eher in den parlamentarischen Systemen. Letzteres hat aber wiederum den Nachteil, dass alle Macht den Parteien zufließt und eine Parteiendemokratie alles bestimmt, was zur paradoxen Situation führt, dass in parlamentarischen Systemen die Macht des Parlaments geringer ist.

Und hier wären wir wieder am Beispiel Österreich angelangt, denn der Frust auf das Parteiensystem ist groß. Wenn man den aktuellen Frust und die aktuellen Korruptionsfälle nicht nur als Problem begreift, sondern auch als Chance für ein mehr an Demokratie – wenn also Staatsanwälte mehr dürfen, mehr Transparenz durchgesetzt wird, Parteienfinanzierungen öffentlich werden, usw. – ja, darf man dann nicht auch mal darüber nachdenken, wie und was wir eigentlich wählen, und ob das nicht verbessert werden kann?

Es ist noch nicht lange her, als das Kabinett Gusenbauer Legislaturperioden von vier auf fünf Jahren verlängerte. Das kann’s ja nicht sein. Zudem: Auf Wahlplakaten in Österreich geht es meistens um den Bundeskanzler oder um die Regierung („Wer, wenn nicht er?“). Nur die werden bei Nationalratswahlen gar nicht gewählt! Denn erst der Nationalrat wählt bekanntlich die Regierung.

Warum nicht Regierung und Parlament getrennt wählen?

Der – aus meiner Sicht – Vorteil des präsidentiellen Systems muss hier einmal erwähnt werden: Nehmen wir als Beispiel den Haushalt eines Staates. Wenn etwa in den USA Präsident Barack Obama einen Budgetentwurf vorlegt, dann kann er das so wollen, muss aber erst einmal eine parlamentarische Mehrheit dafür gewinnen. Das heißt, er legt den Entwurf dem Parlament vor (das in diesem Fall übrigens keinen Klubzwang kennt!) und muss verhandeln, egal ob seine Partei gerade eine Mehrheit stellt oder eine andere. Am Ende kommt eben ein Budget raus, der demokratisch verhandelt wird.

In parlamentarischen Systemen wird die Regierung von einer Partei, die die absolute Mehrheit innehat, oder von zwei oder mehreren Parteien (Koalitionen) gewählt. Die Regierung entstammt also quasi dem Parlament, die Abgeordneten winken Regierungsvorlagen parteitreu durch. Selten, dass Abgeordnete von Regierungsparteien mal anders als ihre Regierung abstimmen. Das ist ein Problem, aus meiner Sicht.

Als Sonderbeispiel sei übrigens noch das Europäische Parlament erwähnt, das immer wieder durch Überraschungen auffällt. Und warum? Weil sie keine Regierung wählt, der sie sich quasi unterwerfen muss.

Jetzt denke ich diesen Gedanken einmal zu Ende:

Nehmen wir einmal an es bleibt dabei und wir wählen alle fünf Jahre die Legislative; also den Nationalrat. Und jetzt nehmen wir einmal an dazwischen wählen alle Wahlberechtigte auch de Exekutive, also die Regierung. Was würde passieren?

Ich stelle mir das nämlich so vor:

Wenn etwa ein vorgeschlagenes Kabinett Faymann, ein ebensolches Kabinett von Spindelegger, von Strache, von Glawischnig und von Bucher zur Wahl stünden, mit darin jeweils enthaltenen Vorschlägen für das Personal für die Ministerien, dann werden diese Spitzenkandidat_innen darauf achten, dass sie Personal aussuchen, das auch allgemein und öffentlich akzeptiert wird, und nicht nur internen parteipolitischen Interessen dient, wie wir das etwa aus der ÖVP kennen („diesmal muss es eine Frau aus dem Süden und aus einem gewissen Teilorganisation der Partei sein“).

Die zwei Kabinettsvorschläge mit den meisten Stimmen kommen dann in eine Stichwahl. Nehmen wir an es sind die Kabinettsvorschläge Faymann und Spindelegger, die das geschafft haben. Nun müssen diese sich wiederum überlegen, wie sie Mehrheiten schaffen und Art Koalitionsverhandlungen beginnen. Sie nehmen sich zB. Expert_innen außerhalb der Parteienlandschaften ins Kabinett und schauen welche Persönlichkeiten der anderen Parteien vorhanden sind und nehmen diese in den Vorschlag auf. Dann entscheidet das wahlberechtigte Volk, welches Kabinett regieren soll – nach Koalitionsverhandlungen also. Das würde uns einige unerträgliche Koalitionsfragestellungen in Wahlkämpfen ersparen. Ein ÖVP-Wähler würde dann etwa vorher wissen, ob die ÖVP rechtsextreme Kräfte aus dem Umfeld der FPÖ umgarnen würde, oder eben auch nicht, und nicht nachher überrascht werden.

Als Kontrolle steht dann immer noch der Nationalrat zur Verfügung, den man eben getrennt und zu einem anderen Termin wählt. Midterm-Elections quasi. So gibt es immer die Möglichkeit eine Exekutive zu gewissen Kurskorrekturen zu zwingen und zudem dazu zu bringen, mit der Legislative zu verhandeln. Außerdem gäbe es im Parlament ja keine Koalition, was ständige Verhandlungen bedeuten würde.

Meiner Meinung nach wäre das gut für die Demokratie, die dadurch lebendiger werden würde. Es gibt sicher noch viele Punkte, die ich jetzt unberücksichtigt habe, die tiefer entwickelt werden müssten (oder die von Wissenschaftler_innen längst niedergeschrieben wurden, nur ich kenne die Schriften nicht), usw. Ich denke an Klubzwang, die Frage ob Mitglieder der Exekutive im Wahlkampf der Legislative wahlkämpfen dürfen, die Frage inwieweit auch nicht parteipolitisch organisierte Kabinettsvorschläge zur Wahl antreten können, etc.  Aber so als Basis einer modernen Demokratie wäre das doch denkbar? Vielleicht täusche ich mich auch oder habe etwas übersehen? Ich bin neugierig wie Leser und Leserinnen das sehen…

Ein Lob den Wiener Linien.

„Der 49er kommt einfach nicht. #wienerlinien #fail“. Oder: „Na super. Da sitze ich in der U-Bahn und muss plötzlich aussteigen. Keiner kennt sich aus.“

Solche oder ähnliche Tweets bzw. Statusmeldungen auf Social Media-Plattformen waren bis vor kurzem alltäglich. Doch seit einiger Zeit gehören diese Meldungen eher der Vergangenheit an, das Bashing und das #fail bezeichnen der Wiener Linien hat stark abgenommen. Was ist da passiert?

Die Wiener Linien haben Social Media entdeckt und informieren mittlerweile ausführlich, warum es wo zu Ausfällen kommt. Als Beispiel sei etwa dieser Tweet von heute erwähnt: „Falschparker auf der Linie 60 sorgt derzeit für Verzögerungen in Fahrtrichtung Rodaun.“ Oder kurz davor dieser Tweet: „Wegen stellwerksstörung fährt die U4 dzt. nur bis Schottenring. Bis Heiligenstadt fahren Ersatzbusse. Bitte aber wenn möglich ausweichen!“ Auch auf Facebook werden die Neuigkeiten sofort und in Echtzeit kommuniziert (wobei die aktuelle Info zur Linie 60 auf Facebook fehlt, warum auch immer).

Für die Fahrgäste bleibt das freilich ärgerlich. Aber es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man weiß warum es gerade nicht weitergeht, oder eben nicht. In letzterem Fall sind immer die Wiener Linien schuld. Wenn man aber weiß, dass jemand auf Schienen falsch parkt, sieht das eben anders aus. Die Probleme werden transparent nachvollziehbar.

Dieses Beispiel zeigt, wie offensive und transparente Information in sozialen Netzwerken Bewusstsein ändern kann.

Aber damit ich nicht nur lobe: Es wäre gut, wenn die aktuellen Probleme auch auf der Wesbite der Wiener Linien sichtbar werden würden, denn nicht einmal unter „News“ werden diese online gestellt. Ein Twitter-PlugIn würde ja vollkommen reichen, denn nicht jede und jeder benützt Social Media.

Und es fehlt immer noch, dass die Wiener Linien ihre Fahrplandaten auch als Open Data zur Verfügung stellen, damit diese überall genützt werden können, wie etwa in Google Maps. Aber dazu habe ich bereits vor über einem Jahr hier gebloggt.

Update: Auf Facebook wurde mein Blogbeitrag kommentiert und darauf hingewiesen, dass die Meldungen ja auch innerhalb der Verkehrsmittel, etwa auf Screens, angezeigt werden könnten. Ein Anfang wäre bei den Infoscreens ja eigentlich keine schlechte Idee…

Urbane Mobilität einst und morgen.

Die Firma Hildebrands Deutsche Schokolade veröffentlichte im Jahr 1900 eine Serie von Postkarten (Beispiele in diesem Blog), damals ein beliebtes Marketing-Instrument. Inhalt der Serie: Wie wird das Jahr 2000 wohl aussehen? Sehen Sie sich zuerst die Postkarten an, und dann kommen Sie gerne hierher zurück.

Mobilität um 1900

Skurril und witzig, wie man sich vor 111 Jahren den Beginn unseres Jahrtausends vorstellte, oder? Aber blicken wir einmal genauer hin. Ist Ihnen etwas an den oben verlinkten Beispielen aufgefallen? Acht der zwölf dargestellten Postkarten behandeln das Thema der Mobilität in der Stadt, ob Schiff auf Schiene, persönliche Flugmaschinen oder bewegliche Trottoirs und Häuser. Um 1900 war die Industrialisierung Europas am Höhepunkt. Wien etwa hatte um 1910 über 2 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Die Städte Europas platzten aus allen Nähten. Naturgemäß war Mobilität ein Thema, das viele Menschen beschäftigte. U-Bahnen wurden erfunden und gebaut (in Wien gab es 1844 schon Pläne, die erste wurde in London etwa zwei Jahrzehnte später realisiert).

Doch eines konnten die Postkartenpropheten nicht vorhersehen: Den Siegeszug der Automobile, obwohl es sie damals schon gab. Zwar wurden bereits im 18. Jahrhundert die ersten dampfbetriebenen Mobilgeräte entwickelt und der erste benzinbetriebene Wagen im Jahr 1870 von Siegfried Marcus entwickelt, doch offensichtlich gab man dem Automobil noch wenig Zukunftschancen. Da war der Gedanke an persönlichen Fluggeräten anziehender.

Und wie sehen wir das heute, im Jahr 2011?

Ganz so wie in den Postkarten hat es sich doch nicht entwickelt. Und trotzdem stimmen die Grundgedanken von 1900. Mobilität war und ist ein Thema für die moderne Stadt. Damals und heute. Die Vielfalt der Fortbewegungsmittel sind zwar Andere als auf den Darstellungen der Berliner Schokoladenkarten, aber sie sind vielfältig:

Muss man größere Teile transportieren, nimmt man lieber ein Auto, bewegt man sich täglich in der Stadt, um etwa zur Arbeit zu fahren, ist das Fahrrad ein hervorragendes Instrument. Und manche bevorzugen eine coole Vespa, bei Regenwetter jedoch nimmt man dann doch lieber die öffentlichen Verkehrsmittel. Für die Einkäufe ums Eck machen es die zwei Beine, die uns die Evolution geschenkt hat, auch noch ganz gut. Dafür rollen mittlerweile die Einkaufstaschen. Um sich auf der Donauinsel fortzubewegen sind Inline-Skates noch immer ganz fein, und ein Schüler nimmt auf dem Nachhauseweg gerne mal seine Skateboards oder Roller. Und dann werden laufend neue Geräte entwickelt: Segways, Elektroräder, und ähnliche Geräte beginnen die Stadt zu erobern. Und jedes Individuum der Stadt hat andere bevorzugte Fortbewegungsmittel.

Jedoch sind unsere Verkehrskonzepte noch immer die Konzepte, die sich nach dem 2. Weltkrieg durchsetzten, und hier dominiert das Auto sowie die öffentlichen Verkehrsmittel. Nur Fußgänger und Fußgängerinnen werden noch akzeptiert (die ja übrigens bereits den Bürgersteig seit langem hatten, der aber historisch nur als Alternative bei Schmutz auf der Straße gedacht war. Jetzt aber wurde er der Platz, wo man gehen musste und nicht mehr bloß konnte). Es entstanden auf den Straßen Fahrbahnen, klar begrenzt, klar definiert und niemals sollte ein anderer Verkehrsteilnehmer oder eine -teilnehmerin es wagen, diese zu benützen! Auch nicht die Parkplätze links und rechts. Nur die Straßenbahnen und die Autos mussten halt irgendwie klarkommen. Dieses Denken hat sich tief verankert.

Fazit: Verkehr ist vor allem eine Kulturfrage!

Doch nun kommen die vielen neuen Geräte. Wohin mit den Segways? Wo soll der Rolli-Fahrer denn fahren? Wo darf man denn skaten?

Shared Space

Es führt wohl kein Weg an den Konzepten von Shared Space vorbei – die Philosophie und das Konzept, das besagt, dass der in einer großen Stadt für viele Menschen ohnehin knappe öffentliche Raum für alle Teilnehmer_innen und sich darin Fortbewegende gleichberechtigt zur Verfügung steht. Diese müssen wiederum aufeinander Rücksicht nehmen und akzeptieren, dass andere  Arten der Mobilität überall stattfinden können. Die Grundvoraussetzung für diese Akzeptanz ist Respekt. Denn wie gesagt: Verkehr ist und bleibt vor allem eine Kulturfrage. Und es beginnt wohl unter anderem in den Fahrschulen und Schulen, um in diesem Bereich ein Umdenken langsam aber doch zu erreichen. Eine Kulturrevolution quasi, die früher oder später durch das knappere Erdöl (Stichwort Peak-Oil) ohnehin notwendig sein wird.

Mobilität von Information

Doch noch ein Aspekt scheint mir wichtig, wenn man sich noch einmal die Postkarten von 1900 vergegenwärtigt:

Mobile Häuser, mobile Gehsteige – all das zeigt, dass sich die Postkartenmacher Gedanken über Verkehr hinaus gemacht haben. Auch hier eine kleine Fehleinschätzung: Die Mobilität ist einen umgekehrten Weg gegangen. Die Mobilität von Information, Nachrichten, Kultur, Austausch mit Freunden und Freundinnen fand den Weg in die Häuser hinein. Die Postkarte jedoch mit der an der Wand projizierten Theateraufführung hat die Zukunft erkannt, denn immerhin wurde das TV-Gerät ein halbes Jahrhundert später Wirklichkeit. Das Internet hat auch hier eine Revolution ermöglicht: Wie es meiner besten Freundin geht erfahre ich über Facebook, im Fernsehen sehe ich eine Opernpremiere aus Salzburg, Bücher und Essen werden ins Haus geliefert.

Fazit: Nahversorgung von Gütern, Information und Kultur ist der zweite wesentliche Aspekt der mobilen Konzepte der Zukunft. Wobei  mit Nahversorgung mittlerweile nicht nur die Versorgung für alle in der Stadt in möglichst kurzen Wegen bedeutet, sondern eben auch die Möglichkeiten des Internets und der Mobilität in die Wohnbereiche hinein – inklusive Arbeiten von zuhause aus.

Die Kulturfrage

Dass sich urbane Mobilität in den nächsten Jahren stark verändern wird ist gewiss. In welche Richtung sie sich entwickeln wird ist aber unsere Aufgabe. Heute! Je mehr Menschen sich Gedanken darüber machen, was passiert und wie es passieren soll, umso besser (etwa durch diese Blogparade zu diesem Thema – siehe Text unten). Denn egal ob es sich um die Unabhängigkeit von fossiler Energie handelt, um mögliche Erfindungen, die bis zum Jahr 2100 noch kommen werden (wo ist eigentlich die Postkartenserie 2100 heute?): Verkehr und wie sie gestaltet wird ist vor allem eine Kulturfrage. Dazu zählt freilich insbesonders wie mit anderen Verkehrsteilnehmer_innen umgegangen wird – ob ablehnend oder akzeptierend.

Aus dem Jahr 1649 ist eine Abbildung eines windbetriebenen Segelwagens aus den Niederlanden bekannt (Abbildung). Möglicherweise nicht sehr geeignet für den Straßenverkehr heute, aber immerhin ein mit immer kostenlos zur Verfügung stehender Energie betriebener Wagen. Manchmal lohnt ein Blick zurück, in diesem Fall in die Zeit vor der Industriellen Revolution. Der Blick zurück und nach vorn: Eine Kulturfrage.
Dieser Blogbeitrag ist mein Beitrag zur Blogparade, ausgerufen vom ÖkoEnergie-Blog der Raiffeisen-Leasing hier. Hast du auch einen Blog? Dann mache noch schnell mit, denn die Aktion geht noch bis 26.9.2011, 24 Uhr!

Die Daten-Kraken.

Facebook hat es geschafft. Rückte in den letzten Wochen und Monaten Google+ in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, wenn es um das Thema Social Media ging, schlägt Facebook zurück. Ein User-Profil auf Facebook wird zunehmend ein Tagebuch des Lebens und nennt sich Timeline. Das ist zumindest die Absicht von Mark Zuckerberg und seiner Plattform, wie er auf der Entwicklerkonferenz f8 in San Francisco bekannt gab. Parallel ziehen derzeit einige österreichische Studenten rund um Max Schrems vor Gericht, um Facebook und die EU-Datenschutzregeln in Einklang zu bringen.

Wie immer, wenn Facebook am Layout bastelt, sind User und Userinnen verunsichert. Die Frage, ob Facebook für oder gegen seine rund 750.000.000 Nutzer und Nutzerinnen agiert, ist Thema seit es Facebook gibt.

In seinem heutigen Kommentar in der Futurezone geht Gerald Reischl unter dem Titel „Grusel-Mark“ will unser Leben mit Facebook hart ins Gericht. Und man erinnert sich an viele Diskussionen um Google, denn auch diese für seine Privacy-Politik bei Google+ gelobte Firma gilt immer noch als Daten-Krake.

Doch sind es tatsächlich Unternehmen wie Facebook und Google, die das Problem darstellen? Oder zeigt nicht Max Schrems, wohin der Weg führen kann? Oder muss? Denn immerhin sind es Gesetze, die Firmen das Datensammeln erlauben! Und auch Behörden und der Staat haben bekanntlich zunehmend das Bedürfnis Daten zu sammeln. Andererseits helfen Verbote, die das Internet nutzen einfach und hilfreich gestalten auch wenig, wie Helge Fahrnberger in einem Tweet mir gegenüber aufmerksam machte.

Vermutlich werden zukünftig beide Strategien von Datenschützern und -schützerinnen begangen werden müssen: Die Kraft der Gesetze einerseits (die aber dann auch nur funktionieren können, wenn sie global gelten). Und andererseits die Macht der Konsumentinnen und Konsumenten.

Was uns die Diskussion aber vor allem zeigt: Social Media ist ein so neues Medium, das wir immer noch in der Beta-Phase stecken und wohin der Weg führen wird, ist noch vollkommen unklar. Aber besser wir gestalten diesen Weg, als dass er einfach nur passiert.

Gastbeitrag: Don't ask, don't tell – Wie ist das eigentlich im österreichischen Bundesheer?

In den USA wurde vor kurzem die Don’t ask, don’t tell-Regel im Militär abgeschafft. Auch US-Soldaten und -Soldatinnen dürfen nunmehr an ihrem Arbeitsplatz offen ihre sexuelle Orientierung kundtun. In Europa blickt man mitunter skeptisch Richtung USA, Kanada oder Australien. Möglicherweise ist in Europa das Militär ein einfach zu konservativ-national besetztes Thema, als das man sich damit in Menschenrechtsgruppen auseinander setzen will.

Ich wollte es trotzdem wissen und bat Niki Kunrath, Grünes Mitglied der parlamentarischen Bundesheer-Kommission, zu einem Gastbeitrag. Don’t ask, don’t tell auch im österreichischen Bundesheer? Scheinbar schon, wenn auch nicht bewusst. Lesen Sie selbst:

„Du schwule Schwuchtel“

Diese Woche wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika die sogenannte Schweigeregel für Soldaten – Don’t ask, don’t tell – von der US-Regierung offiziell aufgehoben. Bislang mussten Lesben und Schwule in der US-Army entweder ihre sexuelle Orientierung verheimlichen oder sie verloren ihren Job. Die Don’t ask, don’t tell-Regel ist übrigens erst Anfang der 1990-er Jahre unter Präsidenten Bill Clinton – einem Demokraten – eingeführt worden. Doch seit dieser Woche dürfen Homosexuelle auch „offiziell“ in der US-Army dienen und sich dazu bekennen. Im US-amerikanischen Parlament wurde diese Forderung im Dezember 2010 beschlossen, und nun kam von Obama das endgültige Go! gegen eine solche diskriminierende Regel. Bedauerlich finde ich lediglich an dieser Entscheidung, dass homosexuelle Paare keineswegs noch die gleichen Rechte wie heterosexuelle Paare haben – so können gleichgeschlechtliche Paare nicht gemeinsam auf der Basis leben, und gibt es auch andere Differenzen und Benachteiligungen.

Typisch amerikanisch übrigens die Aussendung der Homosexuellen-Initiativen in den US: Dem Militär fehlen jetzt keine talentierten SoldatInnen mehr! Es gibt halt doch immer wieder verschiedene Standpunkte und Sichtweisen. Ich würde es für besser halten, wenn es gar keine „talentierten SoldatInnen“ braucht.

Übrigens Standpunkte:

Ich bin nun seit zehn Jahren in der Parlamentarischen Bundesheer-Kommission Mitglied für die Grünen. Und in all den Jahren gab es noch nie (!) einen Beschwerdegrund von einem Soldaten, bzw. von einer Soldatin,der sich auf seine/ihre sexuelle Orientierung und etwaige daraus resultierende Diskriminierungen bezogen hat.

Wohl wurden Menschen mit „Schwule Schwuchtel“, oder Ähnlichem diskriminiert und beschimpft, doch war dies dann leider eine Stereotype von eher „einfachen“ vorgesetzten Ausbildnern gegenüber Grundwehrdienern, die in deren Augen zum Beispiel zu wenig Leistung – in was auch immer – gebracht hatten.

Im Gegensatz zu den Gay Cops Austria, also der Vereinigung der schwulen und lesbischen PolizistInnen in der Bundespolizeibehörde, gibt es analog keinerlei solche Bewegung im Kader des Österreichischen Bundesheers. Wenn auch nicht in Österreich, so ist zumindest in Deutschland die Situation eine Andere: der ehemalige Wehrbeauftragte des deutschen Bundestags, also jener Mann ,der zuständig ist, analog der österreichischen parlamentarischen Beschwerdestelle für Diskriminierung, Übergriffe und andere Fehlleistungen innerhalb des Militärs, Reinhold Robbe hat heuer seinen langjährigen Freund geheiratet.

Vielleicht kommt das „Outing“ der Einen/des Einen auch bald im österreichischen Bundesheer und schauen wir dann, wie wir damit umgehen. Früher glaube ich mich zu erinnern, war das ein Grund vom Wehrdienst befreit zu werden, das hat sich zumindest gesetzlich deutlich verändert, aber deswegen nur verdrängt?

Niki Kunrath, Mitglied der Parlamentarischen Bundesheer-Kommission für die Grünen, Referent für Migrations-und Menschenrechtspolitik, sowie Sicherheit im Grünen Klub im Rathaus

Gastkommentar Thomas Schmidinger: Islam und der gesellschaftlichen Kontext von Religion.

Vorwort:

Als in der Öffentlichkeit stehender und international denkender und handelnder offen schwuler Mann, für den Menschenrechte zudem unteilbar sind, stellt sich mir – wie vielen Anderen auch – immer wieder die Frage, wie religionskritisch ich argumentieren und agieren kann und soll, wie sehr ich mich auf eine Religion konzentrieren kann und soll, und welche Konsequenzen es hat wenn ich eine Religion in den Vordergrund stelle ohne die Anderen zu erwähnen. Immer heikel!

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrifft dies vor allem den Islam, da er nunmal im Mittelpunkt öffentlicher Debatten steht. Wie kann man Islamkritik formulieren – etwa dass zur Zeit alle Länder dieser Erde mit Todesstrafen für Homosexualität islamische Länder sind – ohne dass ich „den Islam“ (den es ja eigentlich als Einheit gar nicht gibt) und seine Gläubigen in einen Topf werfe? Oder gar extremistische, diskriminierende oder hetzerische Propaganda damit argumentativ unterstütze? Immer schwierig!

Thomas Schmidinger schrieb unten stehenden Text zu dieser Fragestellung, der bislang unveröffentlicht blieb. Man mag vielen Argumenten zustimmen; manchen – ja vielleicht auch vielen – nicht. Aber angesichts der auch von mir so erlebten festgefahrenen Debatten, die kaum noch Bewegung oder Neupositionierung ermöglichen, halte ich den Text für einen wichtigen Impuls und man soll – ja muss – gerade in der Linken darüber diskutieren. Deshalb habe ich Thomas Schmidinger angeboten, den Text auch hier zu veröffentlichen. Es mag vielen – auch Menschen, mit denen ich gerne und intensiv zusammen arbeite und weiter zusammenarbeiten will – aufstoßen, dass hier Kritik geäußert wird. Mir geht es aber nicht darum, dass Denkschulen gegeneinander losgelassen werden, sondern um die Debatte. Denn als schwuler, politischer und global denkender Mann ist diese Fragestellung essenziell.

Anm.: Man entschuldige, dass die Formatierung der Fußnoten leider nicht WordPress-kompatibel ist. Ich arbeite daran, sobald ich die Zeit dafür finde.
Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter, Lektor an der Universität Wien und der Fachhochschule Vorarlberg und Vorstandsmitglied der im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisation LeEZA. Derzeit befindet er sich gerade auf einem Forschungsaufenthalt in Kairo.
 

Islam und der gesellschaftlichen Kontext von Religion

Nicht erst durch die Sarrazin-Debatte wird in Deutschland, aber auch in Österreich und anderen Staaten Mitteleuropas, verstärkt über ‚den Islam‘ diskutiert. Die Fronten gehen dabei quer durch die politischen Lager. In Sachen Islam werden derzeit alle möglichen Leute durch die Lektüre einiger Artikel und vielleicht sogar einiger ausgewählter Bücher zum „Experten“. Sachkenntnis ist dafür nicht unbedingt notwendig.

Sowohl von GegnerInnen als auch von ApologetInnen des Islam wird dabei ein weitgehend homogenisierendes und essentialistisches Bild des Islam und der Muslime gezeichnet. Es fehlt dabei weitgehend an historischer und gesellschaftlicher Kontextualisierung. Dies ermöglicht es auch so genannten ‚Islamkritikern‘ ein ‚singeling out‘ gegenüber dem Islam zu betreiben und dem Islam bzw. den Muslimen Dinge vorzuwerfen, die de facto die gesamte abrahamitische Religion in ihren unterschiedlichen Ausformungen betreffen. Wer also versuchen will, sich mit dem Islam rational und kritisch auseinanderzusetzen, muss diese Religion im Kontext ihrer Gesellschaft und anderer Religionen betrachten.

Wie andere Religionen auch, ist der Islam zu einer Zeit entstanden in der es keine Trennung von Gesellschaft, Politik und Religion gab. Diese Trennung ist eine späte Entwicklung der Moderne im Kontext der Entstehung moderner Staatlichkeit und des Kapitalismus als ökonomisches System. Weder die Stammesgesellschaften, die irgendwann zwischen dem ersten Jahrtausend vor Christi und dem so genannten Babylonischen Exil das Judentum als Religion entwickelten, noch das Königreich des Herodes und seiner herodianischen Dynastie im Kontext der römisch-jüdisch-hellenistische Welt des Nahen Ostens, die das Christentum hervorbrachte, noch die arabischen Stammesgesellschaften des 7. Jahrhunderts nach Christi, kannten einen modernen Staat und damit eine Trennung der Sphären von Religion, Gesellschaft und Politik. Damit entstammen sowohl das Judentum als auch das Christentum und der Islam einer nichtsäkularen Welt, die die relative Autonomie des Politischen nicht kannte.

Für marxistische Staatstheoretiker wie Nicos Poulantzas bildet die relative Autonomie des Politischen und Ökonomischen ein zentrales Merkmals des modernen Staates. In seiner ‚Staatstheorie‘ formuliert er:

„Die Besonderheit des modernen Staates beruht […] auf der relativen Trennung des Politischen vom Ökonomischen und auf einer Neuorganisation ihrer Räume und Felder ausgehend von der vollständigen Besitzlosigkeit des unmittelbaren Produzenten in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen.“ [1]

Diese relative Autonomie des Politischen im modernen Staat ermöglichte jedoch auch erst die Trennung des Politischen vom Religiösen. Religionen die vor der Entstehung des modernen Staates entstanden sind – und dies gilt mit Ausnahme religiöser Neuschöpfungen der letzten zweihundert Jahre für alle derzeit existierenden Weltreligionen – entstanden damit in einer Gesellschaft, die diese Trennung nicht kannte. Sie waren deshalb notwendigerweise per se nicht säkular, sondern Teil eines allgemeinen Welterklärungssystems, das sich nicht von den später relativ autonom gewordenen Sphären der Politik, der Wissenschaft, des Rechts und der Ökonomie trennen lässt.

Damit ist es wenig erstaunlich, dass alle im vormodernen Kontext entstandenen Religionen sowohl in ihren heiligen Schriften als auch in ihren anderen religiösen Traditionen, sich nicht nur mit Vorstellungen der Transzendenz beschäftigen, sondern auch mit dem Diesseits. In allen heiligen Schriften dieser Religionen finden sich ethische Vorstellungen, Rechtsvorschriften und politische Überlegungen. Und in allen heiligen Schriften dieser Religionen geben diese den Stand dessen wieder was in den jeweiligen Entstehungskontexten dieser heiligen Schriften als richtig betrachtet wurde. Dass diese aus heutiger Sicht gelinde gesagt archaisch anmuten ist eine Selbstverständlichkeit.

 

Rechtsauffassungen abrahamitischer Religionen und Gesellschaft

Gerade die abrahamitischen Religionen[2] Samaritanertum, Judentum, Christentum und Islam unterscheiden sich dabei wenig in den Rechtsvorstellungen, die in ihren heiligen Büchern wiedergegeben werden. Es würde den Rahmen dieses Artikels, sowie meine Kompetenz als Nichttheologe sprengen, eine Analyse dieser Bibelstellen bieten zu wollen. Hier sollen einige Hinweise auf Rechtsvorstellungen in der Bibel genügen um auf die Ähnlichkeit mit im Koran aufzufindenden Vorschriften hinzuweisen.

Mehrmals finden sich in der Bibel zum Beispiel eindeutige Aufforderungen zur Steinigung als Form der Todesstrafe. So befiehlt etwa der Herr Moses im Buch Levitikus einen Gotteslästerer aus dem Lager hinauszuführen und zu steinigen. Schließlich wird folgende Regelung formuliert:

„Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht.“ (Lev, 24,16)[3]

Im Buch Deuteronomium wird die Steinigung für außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau verlangt:

„Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrien hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.“ (Dtn 22, 23-24)

Die Steinigung ist auch für Personen vorgesehen in denen ein „Toten- oder ein Wahrsagegeist ist“:

„Man soll sie steinigen, ihr Blut soll auf sie kommen.“ (Lev 20, 27)

Ähnliches gilt auch beim Ehebruch:

„Wenn ein Mann dabei ertappt wird, wie er bei einer verheirateten Frau liegt, dann sollen beide sterben, der Mann, der bei der Frau gelegen hat, und die Frau. Du sollst das Böse aus Israel wegschaffen.“ (Dtn 22, 22)

Ohne auf die genaue Form der Todesstrafe einzugehen, wird für männliche Homosexualität explizit die Todesstrafe verlangt:

„Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.“ (Lev 20, 13)

Ähnliches gilt für Sex mit Tieren (Lev 20, 15-16) und heiratet einer Mutter und Tochter, gilt dies als Blutschande:

„Ihn und die beiden Frauen soll man verbrennen, damit es keine Blutschande unter euch gibt.“ (Lev 20, 14)

Und selbst bei Geschlechtsverkehr während der Regel der Frau „sollen beide aus ihrem Volk ausgemerzt werden.“ (Lev 20, 18)

Hier soll allerdings keine Bibelexegese betrieben werden. Angesichts der Art wie manche so genannte „IslamkritikerInnen“ aus dem Kontext gerissene Zitate aus dem Koran benutzen um zu versuchen den Islam als etwas ganz anders als das Christen- und Judentum darzustellen, müssten diese Zitate als Hinweis dafür ausreichen, dass sich in der Bibel ganz ähnliche Rechtsvorstellungen finden, wie im Koran. Dies ist auch wenig verwunderlich, schließlich sind beide in einem ähnlichen gesellschaftlichen Kontext entstanden, nämlich in einer nahöstlichen patriarchalen Stammesgesellschaft, die weder durch einen modernen Staat, noch durch eine zentralisierte politische Macht geprägt war, sondern durch Deszendenzgruppen, die miteinander interagieren mussten. Die Rechtsanschauungen des Korans und der Bibel entsprechen dem Gewohnheitsrecht dieser Stammesgesellschaften und dem Versucht dieses in schriftlicher Form niederzulegen und durch den Hinweis auf ihre göttliche Herkunft zu legitimieren. Solche Rechtsformen funktionierten Mangels eines Gewaltmonopols immer auf dem Prinzip der gegenseitigen (Blut-)Rache bzw. der Furcht vor dieser, sowie ihrer Vermeidung durch unterschiedliche Formen der Aussöhnung zwischen betroffenen Deszendenzgruppen. Als patriarchale Gesellschaften spielte dabei die Kontrolle der weiblichen Reproduktionskraft und damit der weiblichen Sexualität eine zentrale Rolle. Schließlich konnte nur so die Vererbung von an die patrilineare Abstammung geknüpften Zugehörigkeiten und Rechten gesichert werden. Das Rache-Prinzip und die Kontrolle der weiblichen Sexualität sind nicht nur zentral in den Rechtsvorstellungen von Bibel und Koran, sondern finden sich auch weit in vorchristliche Zeiten zurückreichende Formen des Gewohnheitsrechts von Stammesgesellschaften, etwas im Norden Albaniens oder im Kaukasus. Für Gesellschaften ohne eine zentralisierte Herrschaft und Gewaltmonopol, sowie patrilinearer Deszendenz waren solche uns heute archaisch anmutenden Rechtsformen schlicht funktional. Wären sie dies nicht gewesen, hätten sie sich auch nicht durchgesetzt und über einen so langen Zeitraum erhalten.

Materialistische Religionskritik ist immer davon ausgegangen, dass Religion ein Produkt der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Marx formuliert die in seinen Thesen über Feuerbach so, dass auch das einzelne „‘religiöse Gemüth‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist“ (7. These).[4] Religion schafft und formt also nicht eine Gesellschaft, sondern wird von dieser geformt.

Insofern ist es auch nicht erstaunlich, dass sich im christlichen neuen Testament eine partielle, aber keine substantielle Verschiebung der Rechtstraditionen der jüdischen Stammesgesellschaft ergibt. Entgegen späterer christlicher Interpretationen, gibt es im neuen Testament keine Aufhebung der jüdischen Gesetze und Jesus vermeidet nach den Erzählungen der Evangelien mehrmals mit der jüdischen Rechtstradition in Konflikt zu kommen. So wendet er sich etwa nicht gegen die Strafe der Steinigung für Ehebrecherinnen. Als im eine Frau vorgeführt wird, die auf frischer Tat beim Ehebruchs ertappt worden war und er gefragt wird ob sie zu steinigen wäre, antwortet er nur:

„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!” (Joh 8, 7)

Mittlerweile Teil eines zentralisierten Weltreiches, transformiert das Christentum die jüdische Stammesreligion zu einer Staatsreligion. Am deutlichsten sichtbar wird dies bei Paulus, der in vielfacher Hinsicht als wirklicher Begründer des römischen Christentums gesehen werden muss und als Verfechter des Heidenchristentums gegenüber dem Judenchristentum maßgeblich für die Ablösung des Christentums vom Judentum verantwortlich war. Paulus ordnet das Christentum der Ordnung des römischen Reiches unter und ermöglicht damit auch die Unterordnung unter das Recht des Kaisers, indem er dessen Ordnung für göttlich erklärt:

„Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.“ (Röm 13, 1)

Das Christentum wird dadurch nicht etwa gewaltlos, wie dies von vielen gegenwärtigen ApologetInnen eines Kuschelchristentums behauptet wird, es nimmt nur zur Kenntnis, dass sich die Gesellschaft gewandelt hat, dass es nicht mehr in einer Stammesgesellschaft existiert, sondern in einem zentralisierten Reich, das die Gewalt zunehmend monopolisiert. Paulus propagiert deshalb nicht die Selbstjustiz einer Stammesgesellschaft, sondern die Unterordnung unter das Schwert des Kaisers:

„Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest. Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, dass du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.“ (Röm 13,4-5)

 

Veränderung und Diversität

Allerdings sind selbstverständlich auch einmal entstandene Weltreligionen nicht statisch. Nicht nur das Christentum setzte einen Bruch gegenüber den Gesetzen der Bibel. Selbst in Römischer Zeit wurden viele Gesetze der Bibel nicht mehr exekutiert und es käme heute selbst extrem fundamentalistischen Gruppen des Judentums nicht in den Sinn wieder mit der Steinigung von EhebrecherInnen zu beginnen. Genau so hat sich allerdings auch der real existierende Islam verändert. Wenn heute so genannte „IslamkritikerInnen“ den Koran als Beleg für eine besonders totalitäre Ausrichtung des Islams heranziehen, müssten sie mit derselben Methode an die Bibel und andere heilige Schriften herantreten. Aus heutiger Sicht wären damit alle diese Religionen völlig anachronistische Wahngebilde.

Der Islam hat in seiner über 1400 Jahre langen Geschichte ähnliche Wandlungen erfahren wie das Judentum und Christentum auch. Islamische Gesellschaften waren nicht nur von Auseinandersetzungen um Rechtsinterpretationen und theologischen Streitigkeiten, sondern auch von Klassen- und Machtkämpfen durchzogen. Im Laufe der Geschichte entwickelten sich ebenso viele islamische Sekten, Schulen und Strömungen wie im Christentum. So bildete der Islam schon nach dem Tod seines Propheten Muhammads keine Einheit mehr. Mit der Abspaltung der Kharajiiten, mit der Trennung von Schiiten und Sunniten, mit der Entwicklung der verschiedenen schiitischen Sekten in Zwölfer-, Siebener- und Fünfer-Schiiten, der weiteren Aufsplitterung der Siebener-Schiiten in verschiedenen ismailitische Sekten, der Entwicklung der sunnitischen Rechtsschulen und der Herausbildung unterschiedlicher Heterodoxien von den Alewiten und Alawiten bis zu den Druzen oder den Bahai, sind die unterschiedlichsten religiösen Strömungen aus dem Islam hervorgegangen und auch innerhalb dieser verschiedenen Strömungen haben wir es heute mit sehr unterschiedlichen religiösen und politischen Positionen zu tun.

Die Konfliktlinien innerhalb der verschiedenen islamischen Sekten und Strömungen verlaufen dabei nicht nur entlang der Frage ob und wie stark jemand „religiös“ wäre, sondern auch wie man den Koran und die jeweiligen islamischen Traditionen interpretiert.

Während die sunnitische Hizb ut-Tahrir bis heute davon ausgeht, dass das Khalifat die einzig legitime politische Form für das Zusammenleben der Muslime darstellt, vertreten andere Strömungen des Politischen Islam, wie die Muslim-Bruderschaft, das Konzept einer etwas diffusen ‚Islamischen Republik‘. Wiederum andere, wie der 1985 hingerichtete Sudanesische Gelehrte Mahmud Muhammad Taha versuchten das islamische Recht, die Scharia, zu einer zeitgebundenen Ausformung des Islam zu erklären und den Islam auf einen demokratischen und sozialistischen ethischen Kern zurückzuführen.[5] Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts argumentierte der ägyptische Ali Abd ar-Rāziq aus einer religiösen Perspektive für die Freiheit der Muslime ihr politisches System frei zu wählen. In seinem Hauptwerk, ‚Der Islam und die Grundlagen der Regierung‘ argumentiert er:

„In Wahrheit hat die islamische Religion mit jener Art des Kalifats, die die Muslime üblicherweise kennen, nichts zu tun. Sie hat auch nichts damit zu tun, was die Muslime dem Kalifat in Bezug auf Wünsche und Ehrfurcht, Ehre und Macht zugeschrieben haben. Das Kalifat hat auch nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun. Gleiches gilt für das Gerichtswesen, für Regierungsposten oder Stellen im Staatsdienst. Das alles sind rein politische Angelegenheiten, mit denen die Religion nichts zu tun hat, denn sie hat sie weder gekannt noch abgelehnt, weder vorgeschrieben noch verboten. Die Religion hat sie uns überlassen, damit wir uns dabei auf die Gebote der Vernunft, die Erfahrungen anderer Nationen und die Regeln der Politik stützen können.“[6]

Während in vielen islamischen Staaten auf Homosexualität schwere Strafen – bis hin zur Todesstrafe – stehen, predigen offen homosexuelle Imame, wie der Südafrikaner Muhsin Hendricks, dass Homosexualität im Islam nicht verboten wäre[7] und organisieren sich britische schwule und lesbische Muslime um religiös legitimierte Eheverträge für lesbische und schwule Muslime abzuschließen.[8]

Während viele islamische Gelehrte Abtreibung grundsätzlich ablehnen, halten auch manche konservative Geistliche, wie der 2010 verstorbene schiitische Großayatollah Muhammad Husain Fadlallah auch Rechtsmeinungen für legitim, wonach eine Beseelung des Embryos erst am 120. Tag der Schwangerschaft erfolgt und eine Abtreibung bis dahin somit keine Tötung menschlichen Lebens darstellen würde.[9]

All dies sind nur Beispiele für die unterschiedlichen Positionen die Menschen, die sich alle als gläubige Muslime verstehen, aus dem Koran und den islamischen Traditionen ableiten.  Ähnliche Dispute innerhalb des Islam gibt es genauso in Fragen der (Un-)Gleichheit der Geschlechter, moderner Biotechnologien, des Verhältnisses gegenüber Christen, Juden und anderen Religionen, den Umgang mit ApostatInnen und eine Menge anderer Fragen. Die Unterschiede zwischen Muslimen sind damit in fast allen Fragen größer als zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Was Muslime eint ist der Minimalkonsens des islamischen Glaubensbekenntnisses, nämlich, daran zu glauben, dass es keinen Gott außer Gott gibt und Muhammad der Gesandte Gottes ist. In allen anderen Fragen gibt es einen mehr oder weniger großen Pluralismus an Meinungen innerhalb des Islam. Muslime vertreten allerdings nicht nur verschiedene Meinungen, sie leben diese auch unterschiedlich. Der gelebte Islam zwischen Albanien, Saudia-Arabien, Indonesien, Senegal, Tatarstan, Darfur, Detroit, Usbekistan, Marokko, Afghanistan, Sansibar, Durban oder Kreuzberg unterscheidet sich ebenso, wie zwischen den türkischen Oberschichten, den ländlichen Regionen oder der urbanen ArbeiterInnenklasse Istanbuls. Und dabei geht es nicht nur darum wie stark ausgeprägt Religiösität ist, sondern auch darum was jeweils als islamisch oder unislamisch verstanden wird.

Deshalb ist es auch genauso sinnlos eine verbindliche Essenz des wahren Islam zu suchen, wie es sinnlos wäre eine solche des Judentums oder Christentums suchen zu wollen. Muslime sind so unterschiedlich und interpretieren ihre Religion so unterschiedlich wie andere Menschen auch. Gegenwärtige politische und gesellschaftliche Verwerfungen in islamisch dominierten Staaten und Gesellschaften haben deshalb nichts mit dem Islam als Religion, sondern mit den Gesellschaften und politischen Systemen, sowie den Ökonomien dieser Regionen zu tun. Diese prägen die jeweiligen Ausformungen und Interpretationen des Islam und nicht umgekehrt.

 

Koran und Bibel

Intelligentere „IslamkritikerInnen“, die sich bewusst sind, dass es nicht genügt selektive Koranexegese zu betreiben, da man dieser ja mit entsprechenden Bibelzitaten kontern könnte, führen immer öfter ins Feld, der Koran hätte einen völlig anderen Charakter als die Bibel, da er ja als Ganzes als direkt von Gott  gesandt betrachtet werde und deshalb nicht hinterfragbar wäre. Es stimmt zwar, dass der Wortlaut des Koran für die Mehrheit der Muslime als direkt von Gott gesandt interpretiert wird. Allerdings bedeutet das nicht, dass der Koran aus deren Sicht keiner Interpretation bedürfe. Über die gesamte islamische Geschichte hinweg gab und gibt es Auseinandersetzungen über die Interpretation des Koran. Die Glaubensüberzeugung, dass der Koran von Gott stammen würde, bedeutet nicht, dass die Muslime auch genau wissen würden was der Koran jeweils bedeuten würde, sondern nur, dass er als Ganzes absolut relevant ist. Auch für klassische und konservative islamische Religionsgelehrte gibt es aber jede Menge so genannter dunkler Stellen des Koran, deren Bedeutung unklar ist. Auch konservative Muslime sind sich über Widersprüche innerhalb des Koran im klaren. Auch die klassische islamische Rechtswissenschaft war sich immer dieser Widersprüche bewusst, weshalb sie das Verfahren der Abrogation (arabisch: nasğ, نسخ) entwickelten. Nach diesem Verfahren werden frühere Koranverse im Falle des Widerspruchs durch spätere aufgehoben. Dabei war es jedoch nicht nur vielfach umstritten welche Verse früher oder später waren und welche Verse damit welche Verse aufhoben, sondern auch das Verfahren selbst war niemals unumstritten. KritikerInnen konnten sich dabei auf Sure 18, 27, in der es heißt, dass keine seiner [Gottes] Worte verändert werden dürften. Als Rechtfertigung für die Abrogation wurde hingegen Sure 2, 106 herangezogen in dem es heißt:

„Was wir auch an Versen aufheben oder in Vergessenheit bringen, Wir bringen bessere oder gleiche dafür. Weißt du nicht, dass Allah über alle Dinge Macht hat?“ (2, 106)

Es würde für diesen Artikel zu weit führen diese Debatte nachzeichnen zu wollen. Hier soll dies als Hinweis dafür genügen, dass auch jene überwiegende Mehrheit der Muslime, die im Koran ein in Wortlaut herab gesandtes Wort Gottes sehen, sich immer uneins waren wie dieses zu verstehen ist. Auch als göttliche Wortoffenbarung ist der Koran deshalb immer auch als offener Text verstanden worden, der der Interpretation bedarf.

Dies hat DogmatikerInnen aller Art natürlich nicht davon abgehalten, zu behaupten diese Interpretation genau zu kennen. Solche ‚Bibelgläubige‘ sind allerdings auch im Christentum zu finden. Dogmatismus liegt deshalb dem Koran als Text nicht mehr inne als anderen heiligen Büchern anderer Religionen. Es gab nie eine verbindliche einheitliche Interpretation des Koran, sondern immer nur unterschiedliche Interpretationen, dogmatischer und – sagen wir einmal – flexiblere.

 

Religions- oder „Islamkritik“?

Dies spricht nicht gegen Religionskritik. Religionskritik als wissenschaftlich fundierte kritische Auseinandersetzung mit Religion ist aufklärerisch. Eine solche Religionskritik kann sich jedoch nicht darin beschränken, sich seine eigenen Strohpuppen zu errichten, um dann die Karikaturen von Religion bekämpfen zu können, sondern muss Entstehungskontext, Diversität und Veränderung, sowie die Funktion von Religionen für Gesellschaften kritisch beleuchten. Vor allem muss eine solche Religionskritik jedoch rational und (selbst-)kritisch bleiben und darf sich nicht auf eine einzige bestimmte Religion beschränken.

Was derzeit im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff der „Islamkritik“ läuft, sei es „Islamkritik“ aus der extremen Rechten oder aus dem so genannten antideutschen Lager, ist keine Religionskritik, sondern das ressentimentgeladene Wiederkäuen von Stereotypen, die sich Halbgebildete durch die Lektüre einiger Texte oder eine selektive und unqualifizierte Koranexegese angelesen haben.

Selbstverständlich finden sich auch innerhalb des politischen Spektrums, das sich in Deutschland und Österreich als ‚antideutsch‘ bezeichnet unterschiedliche Positionen in der Frage der Einschätzung des Islam. Allerdings handelt es sich dabei meist eher um Nuancen und nicht um grundsätzliche Unterschiede. Zwar distanzieren sich manche Strömungen von der offen gegen Muslime gerichteten Hatespeech einer ‚Bahamas‘ oder einer ‚Prodomo‘, allerdings finden sich in abgeschwächter Form ähnliche Argumentationsmuster auch in anderen Zeitschriften, die in der so genannten antideutschen Szene gelesen werden.

Zwar grenzt sich diese ‚Islamkritik‘ verbal von einer ‚Islamkritik‘ von rechts ab nur um dann eine bessere, angeblich nicht rassistische ‚Islamkritik von Links‘ einzufordern. Wenn Stephan Grigat von der Gruppe „Café Critique“ und „Stop the Bomb“ kritisiert, dass die „etablierte Linke“ die „Kritik des Islam den Fremdenhassern von rechts“[10] überlasse, kann dies wohl nur als Aufforderung zu einer ‚besseren‘ weil linken ‚Islamkritik‘ gelesen werden. Dabei geht es also nicht mehr um Religionskritik, denn Grigat arbeitet schließlich mit seinen beiden Organisationen auch eng mit der Israelitischen Kultusgemeinde zusammen, hat also kein Problem mit Religion an sich, sondern eben mit einer bestimmten Religion. Diese bestimmte Religion soll als besonders reaktionär, regressiv, antisemitisch und totalitär dargestellt werden. Entsprechend argumentierte „Café Critique“ 2008 in der Bahamas gegen die vermeintliche ‚Islamkritik‘ der FPÖ, der sie die eigene ‚Islamkritik‘ gegenüberstellte. Dabei wurden v.a. jene kritisiert, die den Rassismus der FPÖ kritisieren und angeblich nicht Wissens wären „die Bedrohung durch die islamische Erweckungsbewegung auch nur ins Auge zu fassen, sondern vielmehr jede Kritik an deren regressiver und vernichtungswütiger Zwangsmoral als Islamophobie“[11] zu denunzieren.

 

In der linken Wochenzeitung Jungle World[12] hatte Thomas Maul in einem Vorabdruck seines Buches „Sex, Jihad und Despotie“ im Mai 2010, behauptet, dass der Islam die Dämonisierung des weiblichen Geschlechts „nicht mehr nur – wie noch im Christentum – auf besondere Frauen“ beziehe, sondern alle umfasse:

 

„Teilen Frauen doch die ihnen im Islam wesenhaft zugeschriebene Charaktereigenschaft, Fitna – Unruhe, Verwirrung, Unordnung – zu stiften, mit dem Leibhaftigen. Entsprechend kann sich der Gläubige vorm drohenden Unheil, das von den Frauen ausgeht, gar nicht genug in acht nehmen.“[13]

 

Als Beleg für diese These führt er nicht einmal einen einzigen islamischen Text an, sondern bezieht sich ausschließlich auf die Thesen des weit rechts stehenden antiislamischen Islamwissenschafters Hans-Peter Raddatz. Raddatz, der ansonsten der „westlichen Elitenpolitik“ vorwirft „eigene Interessen über das Gemeinwohl“ zu stellen und eine „laufende Islamisierung und mit ihr den Verdrängungsdruck auf die europäischen Bevölkerungen, den wir ‚Demophobie‘ (Volksfeindlichkeit) nennen“[14] zu verstärken und von einer Vertreibung der Muslime aus Europa träumt, konnte sich tatsächlich einige Zeit lang auch in ‚linken‘ antideutschen und zionistischen Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreuen. Daran konnten weder latent antisemitische Aussagen von Raddatz selbst etwas ändern, noch die auffälligen Ähnlichkeiten zwischen antisemitischen Verschwörungstheorien und der Vorstellung einer zentral gesteuerten Islamisierung Europas als Teil einer islamischen (Welt-)Verschwörung.

 

Hinter all dieser vermeintlichen ‚Islamkritik‘ steht dasselbe monlithische und essentialistische Bild des Islam als Religion und seiner Gläubigen, den Muslimen, die Widersprüche und Konflikte innerhalb des Islam ausblendet. Die Methoden solcher ‚Islamkritiker‘ mit islamischen Texten umzugehen entspricht jenen, mit denen Antisemiten im 19. Jahrhundert versucht haben mit Versatzstücken der Bibel und des Talmud ein Zerrbild des Judentums zu entwerfen. Diese „Islamkritik“ dient nicht der Aufklärung, sondern dem Schüren von Ängsten und Ressentiments gegenüber einer ohnehin schon in die Enge gedrängten religiösen Minderheit. Sie wird weder dem real existierenden Islam gerecht, noch ist sie bereit sich auch mit anderen Religionen kritisch auseinanderzusetzen. Das dadurch erzeugte Bild des Islam ist nicht aufklärerisch, sondern ist ein hasserfülltes Zerrbild.

 

Wenn „Islamkritik“ zur Tat schreitet

Das Schüren von Ressentiment bleibt selten folgenlos. In einer gesellschaftlichen Atmosphäre in der sich der Hass auf eine spezifische Gruppe ausbreitet, finden sich auf Kurz oder Lang Personen, die von der bloßen Theorie zur Tat schreiten. Mit dem Anschlag in Oslo und dem Massaker auf der nahe gelegenen Ferieninsel Utøya vom 22. Juli wurde Europa mit dem ersten großen terroristischer Anschlag aus der antiislamischen Szene konfrontiert. Auch wenn die Opfer des Anschlags überwiegend säkulare SozialdemokratInnen waren, so sah der Attentäter in diesen v.a. „kulturmarxistische“ Helfer der „Islamisierung Europas“. In einem Manifest des Terroristen in dem er sich auf unterschiedlichste „Islamkritiker“ in Europa bezog, äußerte sich ein Weltbild, das durchaus auch auf einer Reihe so genannter „islamkritischer“ Websites zu finden war und ist. Auch wenn sich viele dieser Websites und der antiislamischen politischen Parteien Europas vom Attentat selbst distanzierten, kann die ideologische Mitverantwortung für die Aufbereitung des politischen Klimas, in dem einzelne zur Tat schreiten, nicht so einfach von sich gewiesen werden. Im Gegensatz zu gihadistischen Anschlägen der letzten Jahre, war die Öffentlichkeit in diesem Fall allerdings rasch bei der Einzeltäterthese angelangt. In den Medien wurde der Attentäter psychologisiert, der ideologische Hintergrund zunehmend ausgeblendet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich nicht nur rechte antiislamische Gruppen mit dem Attentäter schwer tun, sondern auch manch antideutsche Gruppierung Bocksprünge vollzieht um die eigene „Islamkritik“ zu retten. So wird der Terrorist für Cafe Critique zum antisemitischen Attentäter, der eine „Imitation des jihadistischen Antipoden“ darstelle.[15] Für Gerhard Scheit auch das Massaker von  Utøya Anlass über ‚muslimische Rackets‘ zu schwadronieren, auf die der Terrorist doch nur neidig gewesen wäre:

„Und es ist gerade der Neid auf die Gemeinschaft enragierter Muslime und die Schlagkraft und Gewalttätigkeit ihrer Rackets, die den Attentäter von Oslo umtreibt. Der auf Gewalt sinnende Antisemit, der für Israel Partei ergreift, bleibt notwenig ganz isoliert. (So war für ihn auch in der norwegischen „Fortschrittspartei“ schließlich kein Platz mehr.) Also phantasiert er Gemeinschaft und Racket herbei und entwickelt dabei die infantilsten Vorstellungen.“[16]

Bei Cafe Critique hört sich Täter-Opfer-Umkehr schließlich folgendermaßen an: Breivik haben sich „genau in das Monster [verwandelt], das die Antizionisten in Israel verkörpert sehen wollen. Die Jugendlichen der sozialdemokratischen Jugend, die er tötete, übten sich auf ihrer Ferieninsel in antizionistischer Solidarität mit den Palästinensern und der Free Gaza Flotte, und (wie einige wenige Medien berichteten) als der Massenmörder sie jagte, glaubten manche von ihnen noch, es handle sich um eine zur politischen Belehrung inszenierte Vorführung israelischen ‚Staatsterrors‘, und fielen ihm darum umso leichter zum Opfer.“[17]

Abgesehen davon, dass dieses Gerücht, die Jugendlichen hätten geglaubt, dass hier ein israelischer Staatsterror inszeniert wurde, nicht in irgendwelchen Medien verbreitet wurde, sondern sich ausschließlich in rechten antiislamischen Websites wiederfand, werden hier im Zusammenhang mit einem terroristischen Massaker, die Opfer letztlich mitverantwortlich dafür gemacht, dass sie sich zur Zielscheibe des Terrors gemacht haben. Breivik ist in dieser Lesart kein Resultat der jahrelangen Hetze gegen Muslime, sondern eine Imitation des gihadistischen Terroristen, der es noch dazu auf ohnehin antiisraelische Jugendliche abgesehen hatte.

Religionskritik in Zeiten kulturreligiöser Mobilisierung

Solche „Islamkritik“, komme sie von Rechts oder von Links, ist in Zeiten der Mobilisierung von Religion und Kultur für globale Verteilungskämpfe, ein Spiel mit dem Feuer. Sie verschleiert Interessen, ökonomische und politische Konflikte und spielt der kulturreligiösen Mobilisierung gegen Muslime in Europa in die Hände.

Demgegenüber müsste eine Religionskritik, die den Islam genauso einschließt wie das Christentum, das Judentum oder den Hinduismus, Religion in ihrem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext analysieren. Eine solche Religionskritik dürfte sich nicht auf die selektive Exegese heiliger Schriften beschränken, sondern müsste diese Texte in ihrem Entstehungs- und Rezeptionskontext diskutieren und damit auch mit Religion als sozialer Praxis verbinden. Vor allem aber müsste eine solche Religionskritik Religiosität als Feld gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Auseinandersetzungen begreifen und nicht nach einem „Wesen der Religion an sich“ suchen.

Analog zur in der marxistischen Staatstheorie von Nicos Poulantzas formulierten Vorstellung, des Staates als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen, d.h. Klassenverhältnissen“[18] könnte auch institutionalisierte Religion als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft begriffen werden, die sich als Resultat von Verschiebungen dieser Kräfteverhältnisse verändert und immer wieder – ebenso wie der Staat – mit fundamentaler Opposition konfrontiert ist. Solche Religionskritik könnte Pierre Bourdieus Ansatz, Religion im Sinne seiner Feldtheorie als „religiöses Feld“ zu verstehen[19], aufgreifen um damit Kämpfe zwischen unterschiedlichen Formen von Religiosität und ihre Trägern deutlich zu machen.

So verstandener Religionskritik ginge es um Erkenntnis und Kritik von Herrschaftsverhältnissen und nicht um die Stigmatisierung der Angehörigen einer bestimmten Religion.

[1] Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg, 2002, S. 81

[2] Die Ähnlichkeit in den religiösen und rechtlichen Vorstellungen dieser Religionen gehen letztlich so weit, dass sich dabei durchaus auch der Singular verwenden ließe. Wenn wir vom Buddhismus als einer Weltreligion sprechen, könnten wir durchaus auch von der abrahamitischen Religion sprechen, von der Samaritaner, Judentum und Islam nur jeweils spezifische Spielarten bzw. Sekten bilden.

[3] Alle Zitate aus der Bibel entstammen der von der u.a. von der katholischen Kirche verwendeten so genannten Einheitsübersetzung.

[4] MEW 3:7

[5] Vgl. Schmidinger, Thomas: Die zweite Botschaft des Islam. Eine Menschenrechts- und Sozialismuskonzeption aus dem Sudan. Context XXI, Nr. 7-8 / 2000

[6] Ebert, Hans-Georg / Hefny, Assem: Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft. Übersetzung und Kommentar des Werkes von Alî Abd ar-Rāziq. Frankfurt et al., 2010, S. 114f

[7] http://findarticles.com/p/articles/mi_qa5536/is_200607/ai_n21406906/ [23.2.2011]

[8] http://www.bbc.co.uk/news/uk-12486003 [23.2.2011]

[9] Vgl.: Thomas Eich (Hg.): Moderne Medizin und islamische Ethik. Biowissenschaften in der muslimisch en Rechtstradition. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2008

[10] Stephan Grigat: Blutige Praxis, nicht gedankliche Schrulle. Die Presse, 24. Jänner 2010

[11] Café Critique: Islamkritik und Politik im Namen des Volkszorns. Die FPÖ und das postnazistische Österreich. Bahamas Nr. 56, 2008

[12] In Berlin erscheinende linke Wochenzeitung, die sich in den letzten Jahren zunehmend zu einer Zeitung der antideutschen Szene verengt hat. Dieser Text, der ursprünglich von der Zeitschrift Phase 2 angefordert, aber dann aus inhaltlichen Gründen nicht publiziert wurde, hätte danach in der Jungle World erscheinen sollen. Trotz ursprünglicher Zusage der Publikation wurde der Text nach mehrmonatiger Verzögerung dann u.a. deshalb abgelehnt, weil es – wie es in einem Mail des zuständige Redakteurs formuliert wurde – die Redaktion für falsch hielt „die Breivik-Geschichte zum Anlass für eine Generalrevision der Islamkritik zu nehmen. Ich persönlich denke ja eher, dieses Attentat dürfte die Initialzündung dafür gewesen sein, fortan jeden Islamkritiker der Sympathie mit Terroristen zu verdächtigen, und hätte in meinem Ressort lieber einen Text, der sich diesem Problem widmet.“

[13] Thomas Maul: Sexualität und Despotie. Jungle World, Nr. 20, 20. Mai 2010

[14] Hans-Peter Raddatz, Allah und die Juden. Die islamische Renaissance des Antisemitismus, Berlin 2007, S. 10.

[15] Gerhard Scheit: Methode Breivik. Über den Antisemiten der für Israel Partei ergreift: http://www.cafecritique.priv.at/ [20. 9. 2011] S. 4

[16] Ebenda: S. 4

[17] Ebenda: S. 4f

[18] Nicos Poulantzas: Staatstheorie, Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg, 2002: S. 101

[19] Pierre Bourdieu: Genese und Struktur des religiösen Feldes“, in: ders.: Das religiöse Feld: Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz, 2000

Hallo Heterosexuelle. Ich hätte da eine Bitte.

Kaum eine Rechtsmaterie betrifft so viele Personen und ist zeitgleich so unbekannt, wie das über 200 Jahre alte Eherecht, das freilich die eine oder andere Novelle bekam, aber in der Grunddefinition gleich geblieben ist. Und ich spreche da jetzt übrigens einzig und allein von der staatlichen Zivilehe und nicht von einer kirchlichen Trauung! Leider schaut beim Wort „Ehe“ in Österreich immer noch ein Sakrament um die Ecke, auch wenn man sich „nur“ standesamtlich trauen lässt.

Wenn Frau und Mann heiraten gilt das gemeinhin noch immer als Grund zur Freude und für ordentliches Feiern, man denkt an schöne Kleider, fesche Anzüge, wen man einlädt, Kutsche und Party. Das ist auch okay so, denn sowas soll ja auch gebührend gefeiert werden, wenn mann und frau denn mag. Nur wäre es nicht besser, wenn heiratende Menschen auch ein bisschen mehr darüber erfahren würde, auf was sie sich da eigentlich einlassen? Rechtlich gesehen, natürlich.

Mir persönlich geht es wie viele politisch aktive und interessierte Lesben und Schwule, die sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Eherecht auseinandergesetzt haben. Zwangsläufig mussten wir uns damit auseinandersetzen, denn das Partnerschaftsrecht für homosexuelle Paare, das seit vielen Jahren diskutiert wurde – und seit 1.1.2010 auch in Österreich existiert – veranlasste eine ganze Reihe von Aktivist_innen sich die Frage zu stellen: Was passt denn am Eherecht noch und was denn nicht mehr? Immerhin ist das Eingetragene Partnerschaftsgesetz (EPG) ja an das Eherecht angelehnt, wenn auch viele Unterschiede sauer und diskriminierend aufstoßen.

Im Zuge der Diskussionen rund um ein modernes Partnerschaftsrecht für homo- und teilweise auch für heterosexuelle Paare gab es immer wieder grundsätzliche Fragen, die teilweise sehr unterschiedlich beantwortet wurden oder zumindest mit unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert worden sind:

Wenn das Eherecht antiquiert ist, soll man gleichgeschlechtlichen Paaren ein solches antiquiertes Gesetz dann überhaupt zumuten?
Wollen wir diese veralteten Bestimmungen des österreichischen Eherechts überhaupt in einem EPG (oder einem ähnlichen Institut, etwa dem Grünen Konzept eines auch für Heteros offen stehenden Zivilpakts) haben oder soll das EPG eine Avantgarde für ein modernes Partnerschaftsrecht sein? Warum sollen Heterosexuelle das dann eigentlich nicht eingehen können? Und warum sollen dann Lesben und Schwule nicht einfach eine Ehe eingehen können, wenn sie das wollen?
Wollen wir überhaupt, dass es unterschiedliche Rechtsinstitutionen für verschieden- und gleichgeschlechtliche Paare gibt?
Wer soll für ein modernes Partnerschafts- und Eherecht sorgen? Wir Homosexuelle – sozusagen als die Avantgarde der Gesellschaft? Oder ist das nicht eine gemeinsame Aufgabe aller, die auch eine öffentliche Debatte aller bedeuten müsste – inklusive der Heterosexuellen?

Die Antworten waren daher auch sehr unterschiedlich: Pochten einige Vertretungen der lesbisch-schwulen Community auf ein modernes Partnerschaftsrecht für Lesben und Schwule ohne „Altlasten“ des Eherechts, waren Andere wiederum der Meinung, dass ein modernes Partnerschaftsrecht alle Menschen betrifft, und keine rein homosexuelle Frage wäre. Letztere meinten (und ich gehörte und gehöre bekanntermaßen zu dieser Gruppe von Menschen!), dass ein nunmal im Zivilrecht vorkommendes Eherecht, das eine Bevölkerungsgruppe aussperrt, schlicht diskriminierend ist – egal ob es nun ein gutes oder ein schlechtes Gesetz sei. Und wenn man nun parallel ein neues Gesetz für Homosexuelle macht und Unterschiede zum Recht für Heterosexuelle macht, unterstreicht man Unterschiede, die de facto nicht argumentierbar sind. Reformen und Novellierungen sollten demnach für alle gelten – egal ob homo- oder heterosexuell.

Eine der großen Hoffnungen, die ich und andere Aktivist_innen hatten, war, dass sich Heterosexuelle auch im Zuge der Partnerschaftsdebatte einbringen und mal überprüfen, ob sie das Eherecht und Partnerschaftsrecht (im Übrigen auch das Recht für Lebensgemeinschaften ohne Hochzeit!) überhaupt so haben wollen, wie es derzeit der Fall ist.

Das passierte allerdings nicht. Oder zumindest nur kaum. Im Zuge des Diskussion um das Partnerschaftsrecht für Lesben und Schwule, waren zwar viele Heterosexuelle interessiert, solidarisch und bildeten sich eine Meinung. Dass die Debatte sie aber genau so anging wie es Homosexuellen betraf, wurde kaum wahrgenommen. Und das war und ist ein echtes Problem! Für zu viele Menschen war die Debatte eine zwischen Politik einerseits und Lesben und Schwule andererseits zu führende Debatte – und übersahen, dass es sie eigentlich genau so betraf!

Das österreichische Eherecht ist nur auf wenigen Seiten tatsächlich ein Eherecht. Es ist vor allem ein Scheidungsrecht. Denn wie eine Ehe geschieden wird, verbraucht den Großteil der Paragrafen des Gesetzes. Und da gibt es Absurditäten en masse: „Schuldfragen“, die geklärt werden müssen, völlig antiquierte Pflichten (wie etwa gemeinsames Wohnen, was in unserer globalisierten Welt rein arbeitstechnisch nicht immer und überall funktionieren kann, Pflicht zur Mitwirkung im Betrieb des Partners, Scheidungsgrund „ekelerregende Krankheit“, etc.). Alle Bestimmungen aufzuführen, würde zu viel Platz in Anspruch nehmen. Nehmt euch mal die Zeit und lest das Eherecht durch, so wie es zahlreiche Lesben und Schwulen es machten! Ihr werdet staunen!

Jetzt haben wir also zwei verschiedene Rechtsinstitutionen, eine für homosexuelle und eine für heterosexuelle Paare. Das kann doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein!

Liebe Heteros, mischt euch ein bisschen stärker in die Diskussion ein, denn sonst werden wir Lesben und Schwule nie von einem für uns eigens eingesetzten „Ghetto“-Gesetz befreit werden – und werden dann zudem nie mit euch gleichgestellt. Und ich weiß, dass viele Heteros Ungleichbehandlung ebenso albern finden. Gleichzeitig ist das Eherecht ja derzeit immer noch „euer“ Gesetz: Wollt ihr das wirklich so haben, wie es ist? Mit all seinen absurden Bestimmungen, die ausschließlich Scheidungsanwälte freuen und reich machen? Das kann’s doch nicht sein.

Lasst bitte Politiker wie Albert Steinhauser nicht alleine, der sich schon lange für ein modernes Eherecht einsetzt, aber in der öffentlichen Debatte gerne totgeschwiegen wird – von politischen Mitbewerbern ebenso wie von den Medien. Bringt euch ein und fordert eine Modernisierung. Ihr habt mit vielen Lesben und Schwulen jedenfalls Partner und Partnerinnen für diese dringend notwendige Debatte. Ohne Euch werden wir das Partnerschaftsrecht nicht modernisieren können. Das haben die letzten Jahre bewiesen. Zusammen wären wir aber um einiges lauter! Und immerhin ist die Frage eines modernen Partnerschaftsrecht eine Frage, die uns alle angeht.
Weiterführende Links:

Insgesamt gibt es 60 bisher entdeckte Unterschiede zwischen dem heterosexuellen Eherecht und dem homosexuellen Partnerschaftsrecht, wie das Rechtskomitee Lambda hier auflistet.

Das österreichische Eherecht kann hier nachgelesen werden.

Das Gesetz zur Eingetragenen Partnerschaft findet sich hier.

Wie digitale Zertifikate der niederländischen Regierung zum Verhängnis wurden.

Es begann im Iran. Als ein iranischer User ein nicht funktionierendes digitales Zertifikat meldete als er sein Gmail-Konto abrufen wollte, stellte Google fest, dass die Zertifikate der in den Niederlanden ansässigen Firma DigiNotar gefälscht und auf verschiedene Domains angewandt wurden. Google sperrte daraufhin alle DigiNotar-Zertifikate in seinem Browser Chrome, wie Google hier bekannt gab. Mozilla mit seinem Browser Firefox verlautbarte die Sperre daraufhin ebenso hier.

Die gefälschten Zertifikate von DigiNotar in Beverwijk, einer Firma im Besitz des amerikanischen Vasco-Konzerns mit Hauptsitz in der Schweiz, wurden ähnlich einer Phishing-Attacke verwendet; einer sogenannten Man-in-the-Middle-Attacke. Man kann sich das etwa so vorstellen: Ein User meldet sich auf einer Website an, beide zertifizieren sich wer sie sind und können vertraulich Informationen austauschen. Man erkennt solche Verbindungen durch das https in der Adresszeile des Browsers. Bei den Zertifikaten der Betrüger setzt sich ein dritter Rechner ein, der entweder die Daten sammelte oder zu falschen Websites umleitete. Dass die gefälschten Zertifikate gerade im Iran auftauchten lässt freilich aufgrund des bekannt verbrecherischen und vor Demonstrationen gleichzeitig verängstigten Mullah-Regimes Schlimmes vermuten. Aber eben nur vermuten. Ein Bekennerschreiben existiert bereits, wie die Futurezone hier berichtet.

Dass die iranischen Probleme Auswirkungen auf die gesamte Internet-Abwicklungen der niederländischen Regierung haben, liegt daran, dass Seiten wie der belastingdienst – einer Seite des Finanzministeriums, in der jeder Niederländer und jede Niederländerin Steuererklärungen machen kann – oder DigiD – einer Seite mit der man eine Authentifizierung beantragen kann, die auf jeder Website der niederländischen Behörden gilt – ausschließlich mit digitalen Zertifikaten der Firma DigiNotar arbeiten. Ohne Backup, d.h. ohne weitere Zertifikatsmöglichkeiten anderer Anbieter.

Die öffentliche Kritik in den Niederlanden ist sehr heftig, die Medien berichten ausführlich. Zum Einen wird die Regierung dafür kritisiert nur auf einen Anbieter gesetzt zu haben. Andererseits und vor allem wird aber die Firma DigiNotar kritisiert. Nicht nur Google und Mozilla ärgern sich darüber, dass ein Hack bei DigiNotar seitens der Firma niemandem gemeldet wurde. Auch der niederländischen Regierung offenbar nicht.

Eine Firma, die auf digitale Zertifikate spezialisiert ist, kann freilich nur überleben, wenn man dieser Firma vertraut und glaubt, dass sie sicher ist. Das wusste DigiNotar freilich auch und entschied sich die Angelegenheit nicht öffentlich zu machen. Denn ein schlechter Ruf ist das Schlimmste, das der Firma passieren konnte. Am Ende ging das freilich nach hinten los, dank eines aufmerksamen Iraners.

Diejenigen, die jetzt in den Niederlanden ihre Steuererklärungen abgeben wollen oder andere Behördenwege online abwickeln wollen, haben vorerst das Nachsehen. Denn im Moment geht eher nichts mehr. Die Regierung hat verlautbaren lassen, dass die Bürger_innen mit dem Einloggen auf Regierungs-Sites erstmal warten sollen. Neue Zertifikate auf allen Websites zu implementieren dauert Zeit. Und kostet Steuergeld.

Gibt es Lehren aus dieser Angelegenheit? Zum Einen wird klar, dass öffentliche Websites von Regierungsstellen immer ein Notszenario brauchen. Werden Zertifikate in einem Browser nicht mehr bewilligt, muss man schnell umschalten können. In den Niederlanden wird zudem die Forderung laut, dass Datenlecks und Hacks prinzipiell gemeldet werden müssen. Und dann gibt es das Problem, dass eine Regierung einer einzigen privaten Firma vertraut und beauftragt und ihr somit eine Monopolstellung gibt. Eine Firma übrigens die, wenn es Probleme gibt, an alles Andere interessiert ist als an einer Aufklärung. Sie kehrt das Problem lieber unter dem Teppich und hofft einfach, dass nichts passiert. Doch wenn dann ein iranischer Bürger stutzt…

In Österreich soll bekanntlich die Bürgerkarte zukünftig stärker eingesetzt werden, vergleichbar mit dem niederländischen Dienst DigiD. Auch hier ist es – soweit mir bekannt – eine einzige Firma, die Zertifikate ausstellt. Es würde sich jedenfalls eine Recherche mal lohnen, egal ob von politischer, von NGO- oder von journalistischer Seite.