Warum mich der Friedensnobelpreis für die EU trotzdem bewegt.

Erinnerungen an Europa einst

Ich kann diesen Artikel nicht ohne biografische Anmerkungen beginnen: Geboren in den Niederlanden, aufgewachsen im Salzkammergut, in Wien lebend, mit einem gebürtigen Rumänen verheiratet. Ich erinnere mich, dass Familienreisen in die Niederlande immer mit Grenzübertritten verbunden waren und wir drei Währungen in der Tasche hatten. Oder dass man zu spät feststellte, den Auslands-Krankenschein abzuholen.

Ich erinnere mich noch, dass wir noch in den Neunzigern bei Reisen zu unserem Häuschen in Rumänien zwei Grenzen überwinden mussten. Grenzen, wo man oft wählen musste: Gebe ich dem Grenzbeamten eine Packung Kaffee oder einen 20-DMark-Schein oder will ich mich jetzt eine Stunde lang kontrollieren und schikanieren lassen? Und die Geschichten der Familie, in die ich hinein heiratete. Über Ceauşescu, seinem System und wie mein Mann die Revolution in einem Gefängnis in Timişoara erlebte, weil er mal illegal nach Ungarn hinüber gegangen war.

Ich erinnere mich auch an eine Wanderung zum Abschluss meiner Hauptschule in Bad Ischl, Mitte der 80-er Jahre, als wir mehrere Tage entlang der tschechisch-österreichischen Grenze im Mühlviertel wanderten. Und den Stacheldraht, die Wachtürme, die Warnschilder, die Geschichten über in den Westen Geflohene, die Leib und Leben riskierten.

Und ich erinnere mich an die Geschichten meiner Großväter. Der eine in meinem Geburtsort Putten, Gelderland (NL), der die Razzia 1944 mit Glück überlebte und nicht wie alle anderen Männern Puttens zwischen 17 und 55 ins KZ kam. Oder der andere Großvater, der das Bombardement und die Zerstörung Rotterdams durch die Deutschen erlebte. Und die Geschichten der Gefallenen, der Millionen Tote und der Opfer des totalitären Rassen-Wahnsinns.

Das ist vorbei. Geschichte. Alle Länder, zu denen ich privat einen Bezug haben, sind jetzt Inland. Europa. Nur an der rumänischen Grenze gibt es noch einen kontrollierten Übergang. Dort hängen große Tafel mit einer Hotline, wo man anrufen kann, falls ein Grenzbeamter schwarz Geld kassieren will. Weil auch Rumänien diese Grenzen einmal weg haben will, auch wenn es ein schwieriger Prozess ist.

Hat das einen Nobelpreis verdient?

Wenn noch vor über zwanzig Jahren einige Kilometer östlich von Wien eine Grenze verlief, die unüberwindbar war, wenn im Kalten Krieg atomares Wettrüsten Angst und Schrecken verbreitete, wenn nur zwei Generationen vor mir Großväter sich gegenseitig abknallten – millionenfach, und dies überwunden werden konnte: Dann sage ich laut und deutlich: Ja!

Denn die europäische Einigung ist einzigartig in der modernen Menschheitsgeschichte. Staaten, die sich jahrhundertelang in Feindschaft gegenüber standen und Kriege führten (es gibt nicht wenige, die den 30-Jährigen Krieg 1618-48 als die Urkatastrophe, quasi den eigentlichen Ersten Weltkrieg bezeichnen), und die sich entschieden haben, diese Form der Auseinandersetzung zu beenden und stattdessen in Frieden und ohne Waffen zu kooperieren: Dann sage ich laut und deutlich: Ja!

Ein Nobelpreis als Erinnerung – und als Vision

Wie immer man den Nobelpreis für die Europäische Union auch sehen mag, die Entscheidung in Oslo darf jeden Bürger und jede Bürgerin in Europa dazu veranlassen einfach einmal darüber nachzudenken, wo wir leben, und wie wir unsere Nachbarn mittlerweile begegnen, aber auch was nicht passt und wie jede und jeder einen Beitrag leisten kann.

Die Europäische Union ist alles Andere als perfekt. Wie soll es auch anders sein? Es wäre vollkommen illusorisch zu glauben, dass ein Projekt, wie es die Menschheit in der Moderne noch nie gesehen hat, das Paradies auf Erden bedeutet. So waren Verheißungen von „blühenden Landschaften“ (Helmut Kohl, 1989) wohl kontraproduktiv. Europa ist harte Arbeit und eine Kooperation in Vielfalt – mit vielen Sprachen, Kulturen, Meinungen, Weltanschauungen, Religionen usw.

Kritik an Europäische Politik ist wichtig, weil das Fundament Europas nur Demokratie und Menschenrechte sein kann. Das bedeutet auch, dass wir an Europa weiter basteln und bauen müssen, dass wir nie zufrieden sein können, immer kritisieren müssen – sei es das Aushebeln demokratischer Kontrollen in der Eurokrise, sei es die Austeritätspolitik, das unerträgliche Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit, die uns nicht egal sein kann, sei es die horrende Anzahl an toten Flüchtlingen, die versuchten verzweifelt nach Europa zu kommen und von Frontex abgewehrt werden, sei es die (fehlende) Bedeutung des Europäischen Parlaments, sei es die Aufgabenteilung zwischen nationalstaatlichen Kompetenzen und europäischen Kompetenzen, sei es vor allem auch die Konzentration auf eine Wirtschaftsunion und das Fehlen einer Kultur-, einer Menschenrechts-, einer Demokratie- (Ungarn!) und einer Sozialunion.

Bei all den erhitzten Diskussionen, den Streit um Positionen (Hey Leute, Streit gehört nunmal zur Demokratie dazu!), den Empörungen und den zurecht schockierenden Meldungen und Bildern aus Griechenland, Spanien oder Portugal: Wir müssen uns zwischendurch erinnern, wie unsere Großväter dieses Europa noch erlebten und uns erinnern, dass Europa noch vor kurzem ein zweigeteilter Kontinent war. Und sollte der Nobelpreis uns alle daran erinnern wollen, dann ist das gut so. Und dann kann man auch europäische Politik kritisieren und daran arbeiten, dass es besser wird. Nicht jede Kritik ist automatisch antieuropäisch, sondern sehr oft proeuropäisch.

Und wenn ich am Ende noch einen Wunsch Richtung Oslo richten darf: Ich wünsche mir 27 Bürger und Bürgerinnen aus allen 27 EU-Staaten, die sich an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs erinnern, mögen den Preis entgegen nehmen.