Lev Raphael – Winter Eyes. Eine Rezension mit facebook Interview.

Vor einigen Tagen erschien der Frühlings-Katalog der Buchhandlung Löwenherz, dem Buchladen für Lesben und Schwule. Dieses Mal durfte ich (wieder mal) den Gast-Rezensenten spielen. Unter der Rubrik „Löwenherz KundInnen empfehlen“ schrieb ich über den Roman Winter Eyes von Lev Raphael.
Das Außergewöhnliche an dieser Rezension, war aber die Entstehungsgeschichte. Ich habe hier bereits vor einigen Monaten rechts einen kleinen Hinweis auf dieses Buch unter „Was ich lese“ geschrieben. Dann meldete sich Lev Raphael höchstpersönlich. Mittlerweile sind wir facebook-Freunde – und so konnte ich doch eine wohl eher ungewöhnliche Rezension schreiben. Denn manches fragte ich ihn einfach über facebook. Rezension 2.0 soszusagen,

Lev Raphael – Winter Eyes
Coming-out-Romane gibt es in unzähligen Variationen. Viele davon sind eindringlich, erinnern den schwulen Leser oder die lesbische Leserin an eigene Erfahrungen, viele sind aber auch schlicht langweilig, manche sind dafür (mehr oder weniger) komisch, andere wiederum aufdringlich moralisierend. Das Genre des Coming-out-Romans ist wohl einer der häufigsten Varianten queerer Literatur überhaupt. Lev Raphael gelang trotz dieser Vielzahl an Büchern etwas ganz besonderes: Ein Coming-out-Roman, der weit über das Genre hinausgeht und eindrucksvoll unmittelbar erzählt wird; eine Geschichte, die in bewegender Weise die Lebensumstände einer jüdischen Familie aus Polen in den USA erzählt. Als ich vor einigen Wochen auf meinem Blog eine Notiz über den Roman schrieb, bekam ich überraschend eine Email von Lev Raphael. Mittlerweile sind wir auf facebook befreundet, unterhielten uns dort über das Buch, und so ist es mir möglich auch Lev Raphaels Stimme in diesen Artikel einfließen zu lassen.
»Winter Eyes« erschien in den USA bereits 1992, wurde aber erst vor kurzem in der deutschsprachigen Übersetzung von Paul Lukas im Parthas Verlag veröffentlicht. »Mitte der 90-er Jahre wollte der Rosa Winkel-Verlag das Buch bereits übersetzen«, so erzählte mir Lev Raphael, »aber irgendwie wurde da nichts draus, was aber nicht weiter schlimm war, denn Parthas hat dieses und gleich zwei weitere Bücher gekauft und wird im Herbst auch das neue Buch herausbringen.« Dass »Winter Eyes« im deutschsprachigen Raum euphorischer angenommen wurde, erzählte mir Lev Raphael ebenfalls.
Stefan heißt die Hauptfigur in »Winter Eyes« und ist ein pubertierende Junge im New York der 50-er und 60-er Jahre. Er wohnt bei seinen Eltern, von denen er nicht sehr viel weiß. Nur dass sie aus Polen stammen, ist ihm bekannt. Und dass sie mehrere Sprachen sprechen, ist ihm auch aufgefallen. Deutsch allerdings ist keine gute Sprache, so erfährt er bald. Stefans Onkel Sasha spielt leidenschaftlich gerne Klavier und hat eine etwas herzlichere Art als Stefans Eltern. Bald entdeckt Stefan seine Liebe zur Musik und lernt bei seinem Onkel das Klavierspiel, geht mit in Konzerte und hört viel Radio. Eines Abends lauscht er dort wunderbarer Musik und versteht nur, dass es sich um »Winter Eyes« gehandelt hat. Ein Hörfehler, denn der Moderator nannte »Die Winterreise«.
Die Perspektive bleibt im gesamten Buch die Stefans. Genau das macht die Einzigartigkeit des Romans aus. Kein einziges Mal, keine einzige Zeile lang, erlag der Autor der Versuchung, diesen Erzählblick zu verlassen. Die Geschichte entfaltet sich ausschließlich aus den Augen eines 15-Jährigen. »Jedes Buch verlangt viel Disziplin und Hingabe. Es ist, als ob man sich selbst einem anspruchsvollen Liebhaber hingibt. In jedem Buch nimmt man eine handelnde Person an und geht mit ihm auf eine Abenteuerreise«, erzählte mir Lev dazu. Die Eltern Stefans leben sich auseinander. Dass die Eltern etwas verschweigen, spürt Stefan schon lange, dass die Familie aber als Ganzes zusammenbricht, damit hatte er nicht gerechnet. Zu aller Überraschung entscheidet sich Stefan bei seinem Onkel Sasha zu wohnen. Der hat die italienische Familie del Greco als Nachbarn und schnell freundet sich Stefan mit Louie an. Die Freundschaft wird körperlich. Stefan hat bei den de Grecos aber nicht nur seine ersten sexuellen Erfahrungen. Das Familienleben mit Vergangenheit – überall stehen Fotos von Großeltern herum  – ist ebenfalls etwas Neues. Diese Erfahrung kennt Stefan ebenso wenig, wie die körperliche Berührung eines anderen Jungen.
Eines Tages besucht Stefan seinen Vater in Michigan, der dort eine Karriere als Universitätsprofessor begann. Dort offenbart ihm sein Vater die Wahrheit: Stefan ist ein Jude. Die Familie floh aus Polen, nachdem sie die Gräuel des Nationalsozialismus und ihren Konzentrationslagern entronnen sind. Sie hätten Stefan nie etwas erzählt, weil sie ihn vor dieser Vergangenheit beschützen wollten. Für Stefan gerät die Welt aus den Fugen.
Wie autobiographisch ist die Geschichte Stefans eigentlich? Lev Raphael ist schwuler und jüdischer Autor. Stefan ein jüdischer Junge mitten im Coming-out. Lev dazu: »Es ist sehr viel und ganz wenig autobiographisch. Ich war kein Einzelkind. Ich hatte nicht so früh Erfahrungen mit anderen Jungs. Meine Eltern waren nicht geschieden. Ich spielte kein Klavier. Ich war nicht so ernst. Aber ich gab Stefan das Haus und die Nachbarschaft, wo ich aufwuchs. Ich verortete das Buch in dieser physischen und emotionalen Realität. Es gibt auch hie und da andere Parallelen. Ich habe ihn mir als ein alternatives Ich vorgestellt. Was wäre aus mir geworden, wäre ich kein Autor, hätte ich keinen Humor, keine guten Freunde, die mir halfen erwachsen zu werden.«
Das Erwachsen-Werden ist für Stefan immer schwieriger. Konfrontiert mit seiner jüdischen Identität und dem jahrelangen Verschweigen misstraut er alles und jedem, auch seinem Onkel. Stefan muss allein mit sich zurecht kommen. »Winter Eyes« beinhaltet zwei Hauptmotive. Einerseits fesselt die Familiengeschichte, die Verdrängung des Holocausts, des Opferseins und nicht mehr Opfer sein wollen.  Die Verdrängung hat zur Folge, dass die Normalität einer durchschnittlichen amerikanischen Familie ein erklärtes Ziel der Familie ist, woran sie schlussendlich auch scheitert. Andererseits ist die sexuelle Entwicklung ein Leitmotiv des Romans.
War es schwer, diese zwei Themen miteinander zu verknüpfen oder sah Raphael dabei sogar Parallelen, zum Beispiel was Verdrängung oder Identitätsfragen betrifft? »Viele von uns, die schwul sind, spielen eine andere Rolle bis sie ihr Coming-out haben. Da gibt es also diese Trennung zwischen Schein und Wirklichkeit. So wie die Familie, die ihre jüdische Herkunft versteckt und die Nichtjuden mimen, während Stefan herausfinden möchte, wer er ist. Und das in einer Zeit, in der Schwulsein nicht leicht war. Die zwei Themen komplizieren und ergänzen sich.«
Lev Raphael schreibt zur Zeit am Buch »My Germany«, das im Herbst auch in Österreich erhältlich sein soll und lernt zur Zeit intensiv Deutsch, daher schreibe ich ihm auf facebook immer alles auf Deutsch, die Antworten kamen auf Englisch: »Das Buch handelt darüber wie Deutschland mich mein ganzes Leben lang verfolgte – oder besser: die Idee eines Deutschlands, das meine Karriere und meine Identität stark prägte. Danach reiste ich auch drei mal hin. Ich würde gerne eines Tages mehr Zeit dort verbringen, dort leben und es erleben, nicht nur als Tourist. Ich wuchs in einer deutsch-jüdisch geprägten Nachbarschaft auf und hörte um mich herum immer Deutsch. Als ich also das allererste Mal nach Deutschland reiste, fühlte ich mich vertraut – nein, mehr als das: ich fühlte mich behaglich. Das war eine angenehme Überraschung! Also lerne ich jetzt Deutsch, weil es mich fasziniert, weil ich mehr als nur Touristen-Deutsch können möchte. Ich möchte die Fähigkeit haben, auf Deutsch Konversation zu betreiben und Interview-Fragen auf Deutsch lesen, aber diese nicht auf Englisch beantworten zu müssen.«
Lev Raphael: Winter Eyes.
Dt. v. Paul Lukas, D 2006, 339 S.,
geb., € 24.70
Online bestellbar HIER.

עזרא Esra (Hebr.) = Hilfe

Zum Abschluss des Gedenkjahres haben die Grünen Wien in ihrer Ausgabe der Zeitung Wien direkt einen Artikel von mir veröffentlicht, den ich hier online stelle:
 
 
Im Schatten lauter Gedenkveranstaltungen arbeitet eine Initiative, die Opfer des Nationalsozialismus hilft.

Esra ist hebräisch und bedeutet frei übersetzt „Gottes Hilfe“. Am bekanntesten ist der Name durch das Buch Esra im Alten Testament, aber auch im Koran findet er Erwähnung. Esra war Nachfolger des Hohepriesters Aron und lebte nach der Zeit der babylonischen Gefangenschaft und der Zerstörung Jerusalems. Im Jahr 458 v.Chr. zog Esra mit Vollmachten des Perserkönigs Artaxerxes nach Jerusalem und nahm 1.496 Menschen in die alte Heimat mit. Er schaffte neue Rechte und Strukturen in der wieder aufzubauenden Jerusalemer Gemeinde und half maßgeblich mit, Exiljuden zurück nach Jerusalem zu bringen. 

2.400 Jahre später

Die jüdische Gemeinde Wiens galt im 19. Jahrhundert als besonders liberal und assimiliert. Sie war fester Bestandteil der Wiener Gesellschaft. Ihr Erfolg versprechender Weg, der in der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, führte 1938 in die Katastrophe. Zahlreiche Nachkommen empfanden sich nicht mehr als Jüdinnen und Juden. Manche konvertierten zum Christentum, viele empfanden sich als ÖsterreicherInnen und WienerInnen und fühlten sich durch die Nationalsozialisten nicht gefährdet. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland brauchten die Verbrecher des Hitler-Regimes aber nur wenige Wochen und Monate, um Vermögen zu beschlagnahmen, Menschen in Konzentrationslager zu transportieren und sie bestialisch zu ermorden. Nur wenige überlebten oder konnten fliehen. Tempel und Bethäuser fielen 1938 den Verwüstungen der Novemberpogrome zum Opfer.

Notwendige Hilfe

Aus historischen Ereignissen kann die Menschheit bis heute lernen. In der Antike brauchte es nach der babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volkes Strukturen und Rechte, um Jüdinnen und Juden aus dem Exil zurück nach Jerusalem zu bringen. Esra war derjenige, der diese Aufgabe übernahm. Er gründete eine neue jüdische Gemeinde.

In Österreich gab es nach 1945 nur wenig derartige Unterstützung. Zahlreiche umstrittene Restitutionsfälle, mangelnde Einladungen, die alte Heimat wiederzusehen bzw. in sie zurückzukehren, sowie die fehlende Hilfe für NS-Opfer beschäftigen das Nachkriegsösterreich bis heute.  Die unterbliebene Unterstützung zeigt sich auch im erbärmlicher Umgang mit kulturhistorischen Stätten jüdischen Lebens – insbesondere den alten jüdischen Friedhöfen.

Es bedurfte wieder eines Esra, um Menschen zu helfen, die verfolgt worden waren und traumatische Erfahrungen gemacht hatten. ESRA ist in diesem Fall kein Mensch, sondern ein psychosoziales Zentrum, das seit 1997 an jener Stelle angesiedelt ist, an der sich einst die größte jüdische Synagoge befand: in der Tempelgasse 5 im 2. Wiener Bezirk. Bis zu seiner Gründung war es aber noch ein schwieriger Weg. Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) sah sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Es galt sowohl die Folgen der Katastrophe der Shoah von 1938 bis 1945 als auch die in den 70er Jahren einsetzende Migration von vor allem sowjetischen JüdInnen zu bewältigen. 

Das psychosoziale Zentrum ESRA

ESRA wurde nach vielen Jahren der Vorbereitung 1994 gegründet. Mit Unterstützung der Republik Österreich und der Stadt Wien schuf die IKG damit eine innovative und moderne Form ihrer Sozialarbeit. Sie deckt nicht nur die bisher geleistete Sozialarbeit der jüdischen Gemeinde ab, sondern kann darüber hinaus auf die vielfältigen psychischen, sozialen, integrationsspezifischen und rechtlichen Fragen Einzelner eingehen. ESRA kann Menschen nach ihren jeweiligen individuellen Bedürfnissen betreuen.

Holocaust-Überlebende finden in der Tempelgasse (bei Gebrechlichkeit auch zuhause) besonders umfangreiche Unterstützung in Form von  Sozialarbeit, Hilfe im Alter oder rechtlichen Auskünften zu Restitution und Entschädigungsansprüchen. Erfahrung und der Umgang mit Überlebenden der Shoah – und die damit verbundene Traumaforschung sowie der sozialarbeiterischen Umgang mit traumatischen Katastrophen – sind besonders hervorzuhebende Qualitäten von ESRA. Die Erfahrungen des psychosozialen Zentrums der IKG haben sogar dazu geführt, dass ESRA auch bei Katastrophen wie dam Lawinenunglück in Galtür, beim Seilbahnunglück in Kaprun, bei der Tsunami-Katastrophe in Asien und beim Geiseldrama von Beslan helfen konnte. ESRA verfügt über einzigartiges Wissen sowie über kompetente und multilinguale MitarbeiterInnen aus den Bereichen der Medizin, Psychologie und Sozialarbeit.

Das Zentrum ist in zwei Hauptbereiche eingeteilt: Die Ambulanz, als erste Säule, bietet medizinische, therapeutische und pflegerische Angebote. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Betreuung und Behandlung von jüdischer MigrantInnen und Holocaust-Überlebenden. ESRA legt besonderen Wert darauf, dass nicht nur jüdische NS-Opfer behandelt werden, sondern dass alle Opfer des Terrorregimes Hitlers betreut werden. Auch Roma und Sinti, politisch Verfolgte, Kärntner SlowenInnen, Opfer der Euthanasie, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und andere. Zur Ambulanz gehört sowohl die neurologische  als auch die psychosoziale Behandlung und Beratung, allgemein-medizinische Hilfestellungen, Betreuung durch diplomiertes Pflegepersonal, Psychotherapie, Traumabehandlung, Supervision, psychologische Betreuung und Behandlung, Palliativ-Behandlung und -Beratung sowie eine Memory Clinic.

Die zweite Säule ist die Sozialberatung. Diplomierte SozialarbeiterInnen bieten mannigfaltige Betreuungsformen an, unter anderem Hilfe in der Integration von MigrantInnen, Hilfe bei Entschädigungsansprüchen (Opferfürsorgegesetz, Entschädigungen aus Deutschland, Pensionsansprüche, usw.), Unterstützung im Alter (Vermittlung sozialer Dienste, Pflegegeldanträge, Tagesheimstätten, Vermittlung von SeniorInnenwohnheimen und Pflegeheimen, usw.), Hilfe bei Wohnungsangelegenheiten (z.B. Beratung zur Erlangung von Gemeindewohnungen), Hilfe bei finanziellen oder familiären Problemen, sowie eine Rechtsberatung.

Abgerundet wird das Angebot durch gesellschaftliche und kulturelle Angebote. Am Mittagstisch kann um wenig Geld ein koscheres Menü eingenommen werden, im Café kann bei koscherem Kuchen, Kaffee und Tee mitunter auch die eine oder andere Ausstellung mit Kunstwerken bewundert werden. Im Sommer 2008 fand ein spezielles Sommerkino statt. 

 

Gedenkjahr 2008 und ESRA

Das offizielle Österreich gedachte im Jahr 2008 der Ereignisse vom 12. März 1938 und deren katastrophalen Folgen. Dabei wurden bei Gedenkveranstaltungen seltsame Sachen gesagt, Österreich als Opfer stilisiert oder eine Menge Geld in Events investiert. Im Schatten dieser pompösen Selbstdarstellungen arbeitet ESRA weiter – still aber effektiv.

Daher ist es Zeit, ESRA besonders hervorzuheben, denn die Erfahrungen und wissenschaftlichen Ergebnisse dieser einzigartigen Einrichtung führten zu einer Kompetenz, die in Österreich ihresgleichen sucht. Denn Hilfe heißt auf hebräisch Esra und kommt schlussendlich allen zugute.

Psychosoziales Zentrum Esra
Tempelgasse 5, 1020 Wien
www.esra.at
(Bei Besuchen aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen bitte Ausweis mitnehmen)