Marion Kipiani: IDAHO 2013 wird in Georgien zum Tag der Homophobie

Heute ein Gastbeitrag von Marion Kipiani, die in der georgischen Hauptstadt Tiflis lebt:

Die kleine Kaukasus-Republik Georgien ist ein äußerst gastfreundliches, ethnisch und kulturell vielfältiges Land. Die GeorgierInnen rühmen sich gerne ihrer Toleranz im Angesicht dieser Vielfalt. Allerdings haben die meisten von ihnen auch eine ganz klare Vorstellung darüber, was „georgische Identität“ bedeutet: Patriotismus, das Festhalten an traditionellen Werten und, in den meisten Fällen, der orthodoxe Glaube. Die georgisch-orthodoxe Kirche, von vielen GeorgierInnen als die Bewahrerin georgischer Kultur und Sprache während der Sowjetzeit verehrt, hat großen Zuspruch in der Gesellschaft und versteht sich immer noch als Hüterin von Tradition und nationalen Werten. Der Patriarch (in Georgien „Katholikos“ genannt) Ilia II genießt mit über 90 Prozent einen Beliebtheitswert in der Bevölkerung, von dem die meisten PolitikerInnen nur träumen können. In diesem Kontext tut sich eine Gruppe besonders schwer: die LBGT-Community, im hiesigen Sprachgebrauch meist als „sexuelle Minderheiten“ bezeichnet.

Seit einigen Jahren bemüht sich eine kleine Anzahl von AktivistInnen, besonders ums die NGO „Identoba“ (Identität), in der georgischen Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein und Toleranz für die Rechte homosexueller, bisexueller und Transgender-Personen zu schaffen. Obgleich der Versuch einer „Gay Pride“ in der georgischen Hauptstadt im Jahr 2012 von einer Gruppe orthodoxer Fanatiker tätlich angegriffen wurde, entschied sich „Identoba“, auch für den 17. Mai 2013 zu einer kleinen, friedlichen Veranstaltung im Zentrum von Tbilisi (Tiflis) aufzurufen. Die meisten Menschen, die an der auf Facebook angekündigten Veranstaltung teilnehmen wollten, waren entweder Mitglieder der LBGT-Community, Menschenrechts-AktivistInnen oder einfach für mehr Toleranz und eine pluralistische Gesellschaft eintrendende GeorgierInnen.

Im Vorfeld rief der georgisch-orthodoxe Patriarch Ilia II die Regierung dazu auf, die Veranstaltung zu verbieten, und bezeichnete Homosexualität als „Krankheit“ und „Anomalie“. Georgiens Premierminister Bidzina Iwanischwili erwiderte öffentlich, dass alle BürgerInnen ungeachtet ihrer Identität das Recht hätten, friedlich für ihre Belange zu demonstrieren. Die Polizeikräfte würden den LGBT-Flashmob vor einer angekündigten Gegendemonstration orthodoxer Geistlicher und Gläubigen schützen.

Zu dem Flashmob vor dem alten Parlamentsgebäude auf Tbilisis zentralem Rustaveli-Boulevard kam es allerdings nicht. Bereits seit den Vormittagsstunden hatte die mehrere tausend Personen zählende Gegendemonstration den Veranstaltungsort regelrecht besetzt. Die LGBT-AktivistInnen entschieden daraufhin, sich einige hundert Meter entfernt zu versammeln. Kurz vor 13 Uhr durchbrachen orthodoxe Geistliche und ihre AnhängerInnen den Polizeikordon und stürmten den Platz, auf dem wenige Dutzend Menschen für die Rechte von Homosexuellen, Bisexuellen und Transgender-Personen demonstrierten. Der Mob aus Geistlichen im Talar, älteren Frauen, welche die LGBT-AktivistInnen mit Nesselschlägen „heilen“ wollten, und jungen Männern entweder im „Urban-Guerilla-Outfit“ (Kapuzenpullis und vor den Mund gebundenen Bandanas) oder in der Tracht der kaukasischen Bergbevölkerung mit traditionellen Dolchen am Gürtel, ging unter Parolen wie „Lasst sie nicht entkommen!“ und „Tötet sie alle!“ auf die friedlichen Demonstranten los.

Fotostrecke auf Civil Georgia: http://civil.ge/eng/category.php?id=87&size=wide&gallery=92

Fotostrecke auf Eurasianet.org: http://eurasianet.org/node/66984

Die Polizeikräfte bemühten sich, die LGBT-AktivistInnen so schnell als möglich in öffentlichen Bussen und Minibussen unter- und damit in Sicherheit zu bringen. Die wütende Menge der GegendemonstrantInnen verfolgten jedoch sogar die Fahrzeuge, als diese versuchten, sich einen Weg durch die engen Nebenstraßen zu bahnen. In blindwütigem Hass attackierte ein Mob einen Minibus mit Flaschen und Steinen. Direkt neben uns wurde eine junge Frau – wie sich später herausstellte, eine Radiojournalistin – von einem Pflasterstein am Kopf getroffen und von Polizisten in einem Hauseingang in Sicherheit gebracht.

Wütender Mob attackiert einen Minibus mit LGBT-AktivistInnen – YouTube: https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=_f4lMuAhORU

Auf dem zentralen Rustaveli-Boulevard marschierten die Gegendemonstranten, unbehindert von den Sicherheitskräften, auf und ab. Junge Männer, denen die Kampfeslust geradezu ins Gesicht geschrieben stand, waren auf der Suche nach „pederastebi“ (wie Homosexuelle in Georgien abwertend bezeichnet werden). Etwa einen Kilometer vom ursprünglichen Veranstaltungsort entfernte machte eine Menge mehrer hundert orthodoxer Extremisten regelrecht Jagd auf einige LGBT-AktivistInnen, welche sich mit Not in einen Supermarkt retten konnten. Das Geschäft wurde vom Mob umzingelt, und die AktivistInnen musstem vom georgischen Ombudsmann unter Polizeischutz aus dem Laden eskortiert werden. Das Büro der LGBT-NGO „Identoba“ wurde angeblich ebenfalls von den Gegendemonstranten belagert. Insgesamt wurden nach Angaben des georgischen Gesundheitsminister 28 Personen verletzt, darunter auch Journalisten und Einsatzkräfte.

Was bleibt?

Der blinde Hass und die Gewaltbereitschaft der GegendemonstrantInnen, unter ihnen eine große Anzahl orthodoxer Geistlicher, hat in vielen GeorgierInnen Bestürzung und Scham hervorgerufen. Am Samstag versammelten sich Demonstranten vor dem Regierungsgebäude in Tbilisi und forderten, die Verantwortlichen für den Gewaltausbruch müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Bereits am Freitag Nachmittag kam es in Kutaisi, einer Stadt ca. 200 km westlich von Tbilisi, zu einer Solidaritätskundgebung mit den angegriffenen LGBT-AktivistInnen.

Die Regierung reagierte unterdes verhalten. In einer Aussendung verurteilte Premierminister Iwanischwili den Gewaltausbruch. Das Innenministerium kündigte eine Untersuchung der Vorfälle an. Nur der georgische Ombudsmann, Utscha Nanuaschwili, fand scharfe Worte und erklärte, die Gegendemonstranten hätten offensichtlich von Beginn an geplant, die Veranstaltung der LGBT-Community gewaltsam zu stören. Nanuaschwili kritisierte auch das Unvermögen der Sicherheitskräfte, die AktivistInnen zu schützen und ihre friedliche Veranstaltung zu ermöglichen.

Und die georgisch-orthodoxe Kirche? Patriarch Ilia II distanzierte sich von der Anwendung von Gewalt. Allerdings, so sagte er in einer Fernsehansprache am Freitag Abend, sei Homosexualität eine „Sünde vor Gott“ und sollte daher nicht „propagiert“ werden.

Auf Facebook und Twitter lässt sich dieser Tage verbreitet die Meinung lessen, es sei den orthodoxen Extremisten wohl kurzfristig gelungen, die LGBT-Veranstaltung zu unterbinden, sie hätten sich selbst und ihrer Sache langfristig jedoch eher geschadet. Es bleibt zu hoffen, dass der bestürzende Ausbruch von Hass und Gewalt tatsächlich in der georgischen Gesellschaft zu einer breiteren und tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Thema der sexueller Selbstbestimmung ganz allgemein führt. Bis Georgien zu einer konsolidierten und stabilen Demokratie wird, in der die Rechte und der Schutz aller Identitätsgruppen fest verankert und breit akzeptiert sind, wird es wohl noch eine Weile dauern. Das hat uns nicht zuletzt der 17. Mai wieder in Erinnerung gerufen.
Marion Kipiani, geb. 1981, ist Österreicherin und lebt seit Sommer 2009 in Tbilisi. Sie arbeitet seit Anfang dieses Jahres als Koordinatorin für ein Südkaukasus-Projekt des Norwegischen Helsinki-Kommittees zum Thema Menschenrechte und Konflikttransformation und war zuvor auch für lokale NGOs in diesen Bereichen tätig.