Als Zeuge Jehovas aufgewachsen.

Vor einigen Tagen wurden die Zeugen Jehovas als Religion offiziell anerkannt. Zeitungen berichteten viel darüber und auch ich wurde diesbezüglich immer wieder angesprochen und nach meiner Meinung gefragt. Dabei sind meine Gesprächspartner_innen immer sehr überrascht, wenn ich sage: „Ich bin da leicht befangen, kenne die NS-Verfolgungsgeschichte sehr gut, denn ich wuchs selbst als einer auf!“ Als Reaktion folgt dann meist eine Mischung aus Unglauben und Staunen, und manchmal habe ich sogar den Eindruck, ich mache mit dem Satz sprachlos, da ich vielmehr als weltoffener schwuler Mann bekannt bin. Der Weg ein solcher zu werden, war aber ein sehr langer. Ich kann daher hier nur sehr verkürzt zusammenfassen, obwohl es ein langer Text wird. Ich hoffe, Eure Geduld reicht.

Ich erzähle diese private Geschichte übrigens nicht aus dem Bedürfnis eines Seelenstriptease heraus. Ich glaube einfach, es hat auch gesellschaftliche Bedeutung. Die Abwägung, wieviel Privates öffentlich gemacht werden kann, ist immer schwierig, denn auch Privat ist oft sehr Politisch. Ich hoffe ich schaffe es, denn dieser Beitrag kostet mir schon Nerven, Tränen aber zum Glück keine mehr.

Kindheit, Pubertät und „schwere Prüfungen“

Im Grunde wuchs ich ganz normal in einer sehr liebevollen Familie auf – zuerst in den Niederlanden und später im Salzkammergut. Der Unterschied war aber, dass ich nicht in eine Kirche, eine Synagoge oder eine Moschee mitgenommen wurde, sondern eben in den Königreichssaal, wie die Versammlungsorte heißen. Ich ging mit Eltern und anderen JZ von Tür zu Tür, wollte bzw. musste Wachtturm und Erwachet verbreiten und wurde im Bibel lesen und interpretieren geschult. Somit war die Religion von Anfang an ein ganz normaler Bestandteil meines Lebens. Aber schon in früher Kindheit wurde mir klar gemacht: Innerhalb der Glaubensbrüder und -schwester ist man „in der Wahrheit“ und die Welt da draußen ist eben „die Welt“, was durchaus abwertend gemeint war. Das hat seinen theologischen Grund, denn die JZ glauben, dass wir seit 1914 in der Endzeit leben, der Teufel die Welt für kurze Zeit regiert und Armageddon bald kommt, um das Böse zu beseitigen. Daher gilt es noch rasch viele Menschen von der Wahrheit zu überzeugen. Das ist schon eine ganz schöne Herausforderung als Kind: Will ich bald sterben oder ewig leben? Da fällt die Entscheidung erstmals nicht besonders schwer und so strengt man sich eben an. Dass wir weder Weihnachten noch Geburtstage feierten, empfand ich merkwürdigerweise sogar als überlegen und machte mir überhaupt nichts aus. Ich beneidete die anderen Kids gar nicht. Die wiederum sahen mich schon immer als etwas „anderes“. Als JZ in die Schule zu gehen, bedeutet auch immer, auf das reduziert zu werden.

Trotzdem geht man in die Schule, schaut Fernsehen und liest Bücher und alles um dich herum ist aus „der Welt“. Hier ist also die erste große Herausforderung, die von den JZ auch immer wieder betont und mitgegeben wurde, denn all diese Einflüsse werden als „Prüfung“ dargestellt, mit der Gott uns ständig testet. In der Pubertät wird es dann freilich am schwierigsten. Als meine Sexualität (bei mir sehr früh!) sich bemerkbar machte, gefiel es mir gut. Eh klar. Mir über die Ursachen noch völlig unbewusst, referierte ich im Deutschunterricht lieber über Thomas Mann als über Hermann Hesse, lieber über Oscar Wilde als über Edgar Allan Poe. Meine Selbsterkenntnis zum gleichen Geschlecht zu tendieren, war sehr früh vorhanden – im Grunde noch bevor ich überhaupt Sexualität begriff, wovon ich mittlerweile überzeugt bin. Die ersten Phantasien setzten sich im Kopf fest und es folgten bald auch die ersten Erfahrungen, zuerst Onanie und später eben mit Partner und Partnerinnen (ich probierte beides aus, denn wollte „es“ ja wissen). Ich bemerkte rasch, dass der Glauben, in der ich erzogen wurde mit mir als Mensch nicht kompatibel war.

Coming-out und Glaube

Als die ersten Schulfreundinnen (ja, es waren allesamt Mädchen, Burschen gegenüber outete ich mich erst später) Mitte der 80-er Jahre von mir eingeweiht wurden, und sie mein Schwulsein erstaunlich locker akzeptierten, war mir trotzdem bewusst, dass ich als schwuler Mann nicht nur bei den JZ Schwierigkeiten haben würde, sondern auch in der Gesellschaft. Ich fühlte mich ganz allein auf der Welt, Internet gab’s noch nicht, ich kannte keine anderen Lesben und Schwulen, wusste gar nicht wo die sind und wie man sie erkennt. Dass ich einige Klassenkollegen Jahre später wieder in der Rosa Lila Villa treffen sollte, konnte ich damals nicht ahnen. Es folgte trotzdem eine rasche Emanzipation, die erstmal in ein Doppelleben führte. In der Schule und in „der Stadt“ (das war in diesem Fall tatsächlich Bad Ischl) suchte ich nach meiner Identität, zuhause mimte ich den braven Zeugen. Das tat ich nicht mehr nur aus Unsicherheit, zu welchen der beiden Lebensrealitäten ich nun wirklich gehörte, sondern ich wollte natürlich vor allem meine Eltern nicht enttäuschen.

Dann startete ich ein Ablenkungsmanöver, der sehr entscheidend war: Ich begann zu rauchen, was bei den JZ streng verboten ist. Rauchen ist sichtbar, Homosexualität ist es nicht. Rasch wurde mein Zigarettenkonsum zu einem Thema in der Schule, bei meinen Eltern, bei den „Ältesten“ der JZ, die sowas wie moralische und theologische Führer sind, und ich bekam die durchaus beabsichtigten Schwierigkeiten. Der Grund, warum Rauchen verboten war: Man verschmutzt seinen Körper und die der anderen. Auf meine Gegenfrage, warum dann etwa Autofahren oder Energieverbrauch aus kalorischen Kraftwerken (ja, es war die Hainburg-Zeit und ich ein früher Grün-Symphatisant!) dann erlaubt seien, bekam ich keine Antwort. Es war klar, dass ich die JZ nun verlassen konnte – mit allen Dramen, die damit verbunden sind. Die größte Angst, die ich freilich hatte, war vor Liebensentzug meiner Familie. Ich konzentrierte mich aber auf meine Matura, um gleich danach nach Wien zu ziehen, „um mal mit mir selbst zu wohnen“, wie ich das damals formulierte.

Das Leben danach

In Wien studierte ich, lebte mein Leben, wie ich es mir vorstellte und wurde eben das, was ich heute bin. Der Liebesentzug der Familie fand nicht statt. Leicht war es trotzdem nicht – für beide Seiten nicht. Ich wusste, dass ich für meine Angehörigen ein „verlorener Sohn“ war, mit dem sie kein ewiges Leben genießen werden (sicherlich eine schreckliche Vorstellung), und ich war auf den Weg meine Identität zu finden und mich selbst zu bejahen, was auch gelang. Das Glück, das ich fand, war stärker als alles andere, was ich davor erlebte und mir wurde bald sonnenklar: Religionen sind ein Hindernis zum Glück, vielmehr eine menschliche Erfindung um andere Menschen zu kontrollieren und zu maßregeln. Männer machten im Namen von Götter – und später eines Gottes – Regeln, um ganze Gesellschaften im Griff zu haben und die Frau zu unterdrücken. Männliche Moralvorstellungen wurden zum Maßstab. Ich lehnte Religionen ab diesem Zeitpunkt ab.
Bald meldeten sich Gruppen und Vereine ehemaliger Jehovas Zeugen. Ich hörte mir an, was sie zu sagen hatten, denn ich war durchaus bereit speziell Lesben und Schwulen in ähnlicher Situation zu helfen. Doch die Vereine waren genau so missionarisch und kämpferisch, wie die JZ selbst. Mir gefielen die genau so wenig. Sie verbreiteten Vorurteile, die ich so nicht erlebte. Als sie etwa irgendwo kommunizierten (leider vergessen wo), Eltern würden ihre Kinder misshandeln, wandte ich mich mit Grauen ab. Die Welt der JZ, die da geschildert wurde, war nicht die Welt, in der ich aufwuchs, also stimmte auch die Gegenpropaganda zu einem erheblichen Teil nicht.

Was ich allerdings wirklich lernte, war etwas ganz anderes, als die Vereine Ehemaliger praktizierten. In meiner Familie spielte (und spielt) die Religion der Jehovas Zeugen noch immer eine große Rolle – zumal mein Vater plötzlich bei einer Bergtour zu jung ums Leben kam. Ich wollte nach dem Bruch und der Emanzipation wieder eine Beziehung aufbauen, die eben auf einem anderen Fundament gebaut werden musste, sollte eine Beziehung überhaupt funktionieren. Dazu war es notwendig einmal darüber nachzudenken, was ich brauche – und was ich dafür geben muss.

Respekt ist ein gern benütztes, aber viel zu selten gelebtes Wort. Doch es war Respekt, der half. Und zwar wirklicher Respekt! Denn, wenn ich als schwuler Mann respektiert und anerkannt werden will, war es – so war mir sehr bald klar – auch notwendig diesen Respekt selbst anzubieten. Natürlich hätte ich ebenso eine argumentative Auseinandersetzung beginnen können, um zu überzeugen, dass das Leben, so wie ich es lebe, in Ordnung ist und nicht verurteilt werden kann. Aber dann wird es erst recht wieder zu einer Glaubensfrage und einem privaten Krieg. Ich wusste einfach, dass das scheitern würde – ja musste. Also respektierte ich die Religion meiner Angehörigen, wusste wie sie denken und glauben und sprach das auch offen aus. Daraufhin erhielt ich den Respekt und die Anerkennung für meinen Weg und meine Identität – und schließlich auch für meine Lebenspartner. Eine Erkenntnis, die für mich auch politisch prägend war: Einander das Leben, das wir nunmal lebten und leben, leben lassen, einander respektieren – und so schaffen wir tatsächlich ein friedliches Miteinander, mit dem ganz klaren Wissen und dem Bewusstsein um die gravierenden Unterschiede.

Jehovas Zeugen in der NS-Zeit

Ein mir wichtiger Exkurs widme ich jetzt meinem Nachbarn aus meiner Kindheit, den ich damals bewunderte und den ich jetzt immer noch bewundere: Leopold Engleitner (siehe Wikipedia Eintrag über ihn), geboren 1905 und immer noch bei St. Wolfgang im Salzkammergut lebend. Er gilt mittlerweile als einer der ältesten KZ-Überlebenden der Welt (wenn nicht sogar der Älteste). Er wurde verfolgt, weil er Zeuge Jehovas war, überlebte das Grauen mehrerer Konzentrationslager und erzählt heute fast 105-jährig immer noch seine Geschichte auf der ganzen Welt (vergleiche diesen berührenden Artikel). Wir kannten ihn sehr gut, weil er eben unser Nachbar war, nahmen ihn mit unserem Auto mit in den Königreichssaal und sahen ihn zwei bis drei Mal in der Woche.

Jehovas Zeugen wurden während der Schreckenszeit des Nationalsozialismus verfolgt, deportiert und ermordet. Als Bibelforscher bezeichnet, hatten sie einige Erkennungsmerkmale in den Konzentrationslagern. Diese Geschichte ist wichtig zu wissen – auch im Zuge der momentan stattfindenden Debatte über die offizielle Anerkennung.

Jehovas Zeugen offiziell anerkennen?

Ich bin tatsächlich der Meinung, dass die offizielle Anerkennung der Jehovas Zeugen in Ordnung geht. Mein Beweggrund dafür ist zugegeben ein persönlicher, hat für mich aber auch allgemein politische Bedeutung. Denn nach dem Wissen der Verfolgungen und des Terrors gegen JZ, finde ich gut, dass sie nunmehr wissen, anerkannt zu sein, und sie sich somit nicht fürchten müssen. Denn bei Zeugen Jehovas ist es ähnlich wie bei Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, Lesben und Schwule, Menschen mit Behinderungen, usw: Sie müssen wissen, dass sie im Notfall geschützt und nicht verfolgt werden. Das verstehe ich. Persönlich wird diese Erkenntnis, wenn ich daran denke, dass eine Betroffene von Verfolgung etwa meine Mutter wäre.

Die Diskussion die stattdessen viel mehr notwendig ist: Wie trennen wir Religion und Staat? Wie kann ein gesellschaftliches Leben in Respekt und Anerkennung funktionieren, und trotzdem die Errungenschaften der Aufklärung, der Menschenrechte, der Emanzipationen verschiedener Gruppen und der Demokratie geschützt werden? Daher halte ich eine Diskussion über Privilegien, die JZ nun zustehen, für falsch. Es geht vielmehr überhaupt über den Umgang mit allen Religionen und ihren Stellenwert in Gesellschaft und Öffentlichkeit. Diese Diskussion kann und soll man nicht auf den Rücken einer einzigen Religion austragen, da dies genau zur Stigmatisierung einer einzigen Gruppe führt, die so gefährlich ist. Wenn wir schon darüber diskutieren – über Privilegien, Konkordat und andere Zugeständnisse  – dann müssen wir über alle Religionen gleichwertig und gleichermaßen reden – inklusive der Mächtigsten: der katholischen Kirche. Und da bin ich sehr der Meinung, dass viele Privilegien nicht mehr in Ordnung sind. Als Beispiel sei der Unterschied zwischen privaten und konfessionellen Schulen genannt, wie in diesem Blogbeitrag Christoph Chorherrs genannt.