Mein Leben mit der Aids-Krise. Oder: Wütend auf Lugner.

Das wird wieder so ein Blogpost, in dem ich persönlich werde. Um eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines schwulen Mannes, der 1969 geboren wurde und in den 80-er Jahren sein Coming-out hatte. Zur Zeit als Aids aufkam. Und diese Geschichte betrifft einen Großteil meiner Generation plusminus einige Jahre. Eigentlich betrifft es alle, die vor 1996 die schöne, bunte und die damals irgendwie auch als gefährlich verrufene Welt der Schwulenszene kennenlernte. Damals änderte sich diese dramatisch. Grund: Die Aids-Krise.

Der Anlass, warum ich das hier schreibe heißt übrigens Richard Lugner. Ich weiß, der wäre es eigentlich nicht wert einen Artikel zu schreiben, in dem er vorkommt. Aber eben: Ein Anlass ist er allemal. Im ORF sagte Lugner nämlich:
„Ein Veganer wird aus mir nicht, auch kein Homosexueller. Das sind so gewisse Dinge, wo ich sage: ‚Das überlasse ich anderen, diese Späße.‘ … Ich habe jetzt unlängst ein Buch gelesen, also ein Kapitel über Homosexualität, und da habe ich gelesen, wie gefährlich das ist und was da alles für Gefahren schlummern. Deswegen wird man eben Aids-krank“,
Lugner war oft am Life Ball, dem größten Aids-Charity-Event überhaupt. Und Life Ball-Macher Gery Keszler reagierte sofort und erklärte Lugner für unerwünscht. Er brauche den Life Ball nicht mehr besuchen, so Keszler. Das ist eine richtige Antwort auf die unsäglichen Äußerungen eines medial viel zu hochgepushten Pensionisten. Bleibt nur noch die Frage, wie man Life Ball-Besucher und -Besucherinnen sensibilisieren kann, die nur aufgrund der Events und des Gesehenwerdens dort sind. Nicht aus inhaltlichen Gründen.

Trotzdem bin ich wütend. Warum?

Wie oben geschrieben bin ich Jahrgang 1969. Das heißt, dass mein Coming-out zeitlich parallel geschah, als Aids auftauchte und Forscher feststellten, dass besonders in der Schwulenszene Menschen betroffen sind. Ich hörte zuerst nur in den Medien davon. Von „Schwulenkrebs“ war damals die Rede. Und ich kurz vor dem Coming-out! Nicht gerade lustig, sowas. Und bei einer Veranstaltung, die mein damaliger Schuldirektor der Tourismusschule in Bad Ischl veranlasste (was ich bis heute außergewöhnlich und großartig fand), hörte ich von Übertragungswege und Kondomen, die helfen. Mein Coming-out war also gleichzeitig mit dem Erlernen von Safer Sex-Regeln. Erste Erfahrungen hatte ich bereits, aber noch nicht so wirklich den Durchbruch.

1988 kam ich dann nach Wien. Und kurz darauf besuchte ich die ersten Szenelokale. Ich hatte Angst. Aidsfolder hier, Aidsplakate da. Ich stellte anfangs zwei Sachen fest:

1. In der Schwulenszene muss ich verdammt aufpassen und immer mindestens 3 Kondome und 3 Gleitgel-Packs dabei haben.
2. Die Jungs halten aber ganz schön zusammen!

Und nach einem Jahr Lokale, Clubs, Parties, Freunde kennen lernen, Netzwerkaufbau usw. konnte ich noch etwas Drittes feststellen:

3. Die Freunde, die man gerade gewonnen hat, können jederzeit sterben.

Und das taten sie auch. „Wie die Fliegen“, wie wir damals oft bitter feststellten.

Als sehr junger Mann 1988 (19 Jahre alt) war ich einer der jüngeren Generation. Ich gehörte also zu denen, die bereits mit Safer Sex-Regeln in die Szene ankamen. Das unterschied mich und Gleichaltrige von der Generation, die einige wenige Jahre älter war. Die sich noch an die Zeit erinnern konnte, in der man nach Mykonos, San Francisco und Amsterdam fuhr, um auf wilde Parties teilzunehmen und eines nie dabei hatte: Ein Kondom. Wozu auch? Das war ja nur was für Heteros, damit die keine Kinder kriegen. Diese Generation hat es erheblich erwischt. Oder sie hatten einfach Glück.

Die Szene vor Aids stellte noch keine Forderungen nach Ehe oder Anerkennung ihrer Partnerschaften. Das war sogar ein ziemlich lächerlicher Gedanke! Wozu heterosexuelle Lebensmodelle kopieren? Man verstand sich vielmehr als Teil der sexuellen Revolution, die in den späten 1960-ern begann. Feminismus, Ablehnung von Ehe und konservativen Lebensmodelle! Das war der Geist, der die 70-er Jahre ziemlich prägte. Und dann kam Aids. Promiskuität galt plötzlich als gefährlich. Auch in der Schwulenszene wurden progressive und konservativere Konzepte neu hinterfragt. Die Forderung nach so genannten „Homo-Ehen“ bzw. rechtliche Anerkennung von Partnerschaften begann. Die erste Partnerschaft wurde dann 1988 in Dänemark anerkannt. Zeitlich kein Zufall.

Hier spaltete sich auch die Lesben- und die Schwulenszene zu einem gewissen Grad. Zwar trugen viele Lesben die Forderungen, die unter dem Eindruck der Aids-Krise entstand, mit – immerhin waren und sind Lesben und Schwule gern und oft privat befreundet. Doch die aus der feministischen, anti-patriarchalen Ecke stammenden Frauen konnten staatlich anerkannten Lebenspartnerschaften eigentlich nicht viel abgewinnen, ist die Ehe doch ein von Männer für Männer erfundenes Instrument zur Unterdrückung der Frau. Ein Konflikt, der auch heute oft noch auftaucht, wenn auch mittlerweile mit etwas mehr Gelassenheit diskutiert wird.

Doch zurück zur Schwulenszene Ende der 80-er und zu Beginn der 90-er Jahre.

Ich arbeitete in Beisln und hatte Stammcafés. Ich lernte damals ungeheuer spannende Menschen kennen. Man ging ins Café Savoy, ins Café Willendorf, ins Nightshift oder ins Kaiserbründl. Man sah viele Menschen, kannte viele Menschen, und mit Einigen hatte man auch was… Und ein paar wurden enge Freunde. Bis heute. Und manchmal verschwand plötzlich ein Gesicht und man fragte sich: „Wo steckt er denn?“ Man wusste nicht: Ausland? Baumgartner Höhe (Synonym für das auf HIV-Patienten spezialisierte Annenheim)? Neuer fixer Freund? Und man hörte Freunde sagen: „Mich hat’s erwischt.“ Und dieser flüsterte einige Wochen später „Rate mal, wenn ich oben auf der Baumgartner Höhe noch getroffen habe! Erinnerst du dich noch? Der ist eh seit Monaten verschwunden!“ Und man rannte zu vielen Beerdigungen. Sie starben. Als junger schwuler Mann war man früh mit dem Tod konfrontiert. So war das in dieser Zeit.

Aber noch etwas geschah in dieser Zeit: Die Schwulencommunity hatte ein Problem, und dieses Problem galt es zu lösen. Daher gründeten sich früh Aidshilfe-Gruppen, die Kondome verteilten. Überall waren Plakate zu sehen. Folder gab es an jeder Ecke und für jedes Spezialgebiet. Bis zu Safer S/M-Praktiken für schwule Lederkerle. Man hielt unglaublich zusammen, man redete darüber. Und man kümmerte sich um die Patienten, die „oben lagen“, also im Annenheim. Die Medien begannen sich dafür zu interessieren. Schwule wurden plötzlich Experten, vermittelten Safer Sex, machten vermehrt darauf aufmerksam, dass auch Heterosexuelle betroffen sind. Zahlen wurden publik, Frauen waren betroffen! Doch immer noch blieb Aids irgendwie die „Schwulenkrankheit“. Aber Schwule wurden mittlerweile breit wahrgenommen. Sie traten im TV auf. Sie wurden ernster genommen. Dänemark Anerkennung der Partnerschaften 1988, der Beginn des Life Balls 1993 und die erste Regenbogenparade 1996 zeugen von dieser Zeit.

Bis heute wird Aids aber trotzdem noch vorwiegend als ein Problem von homosexuellen Männern wahrgenommen, denn wie viele interpretieren den Life Ball immer noch als Schwulenevent? Dabei ist es längst bekannt, dass es mehrere Risikogruppen gibt (Ungeschützter Analverkehr ist etwa eines der möglichen Risikoverhalten, der aber auch unter Heterosexuellen praktiziert wird) und Sex nicht der einzige Übertragungsweg ist – wenn auch ein wesentlicher.

1996 änderte sich dann vieles. Es kamen die ersten Kombi-Therapien auf, die sich im Laufe der Jahre verbesserten. Bis heute. Nebenwirkungen – etwa ungleiche Fettverteilungen im Körper – wurden sichtbarer Bestandteil der Community, aber besserten sich auch im Laufe der Jahre. Aber es ging plötzlich nicht mehr um einen gewissen Tod, sondern um das Leben mit dem HI-Virus. Um die Integration ins Alltags- und Berufsleben. Die Aids-Prävention freilich wurde dadurch schwieriger. Es starben nicht mehr Freunde weg. Nicht mehr wie die Fliegen.

Ich lernte also zu Beginn meiner Erfahrungen in der Schwulenszene Menschen kennen, die andere befreundete Menschen verloren, Angst hatten, für einander da waren, es thematisierten und neue Lebenskonzepte und ein neues Selbstbewusstsein entwickelten . Und dann hört man Lugner im jahr 2012. Und man fühlt sich einige Jahrzehnte zurück geworfen. Das macht so wütend!
Foto: Keith Haring, Safe Sex, 1988. Später setzte sich der Ausdruck Safer Sex durch.

Wenn Franzobel Schwule schauen geht.

Franzobel schrieb in DIE PRESSE seine Erfahrungen am Life Ball. Heute mein Kommentar in DIE PRESSE: Wenn Franzobel Schwule schauen geht:

Der Life Ball ist keine Schwulenparty. Vielmehr wird einmal im Jahr ein Spektakel im und vor dem Wiener Rathaus zelebriert, um auf Aids und das Leben mit dem HI-Virus aufmerksam zu machen. Dabei wird jede Menge Kohle gesammelt, ohne die unzählige österreichische und internationale Initiativen nicht arbeiten könnten. So kann der Buddy Verein ehrenamtliche HelferInnen organisieren, die Menschen mit HIV und Aids begleiten. So kann Positiv Leben Aids-kranke Menschen schnell und unbürokratisch helfen. So kann der Verein Positiver Dialog Menschen mit HIV und Aids vernetzen, Veranstaltungen durchführen und Selbsthilfe organisieren. Die Liste ließe sich noch fortsetzen.

Warum Franzobel am Life Ball vor allem Schwule schauen ging, ist leicht erklärt. Fakt ist, dass ungeschützter schwuler Sex ein hohes Infektionsrisiko ist. Dies hatte in den 80er-Jahren zur Folge, dass schwule Männer nicht nur die ersten Opfer waren und zahlreiche Freunde verloren haben. Sie waren auch die Ersten, die sich organisierten, helfen wollten und verstanden, dass hier dringend etwas passieren muss – in der Forschung, in der Prävention, in der Hilfe, in der Pflege und vor allem im Bewusstsein der Menschen.

Letzteres erwies sich besonders bei Heterosexuellen als schwierig. Es war einfach angenehm, Aids als Randgruppenseuche zu klassifizieren, die nur einige „Schwuchteln“ und Drogenabhängige betrifft. Aids ist aber keine Schwulenkrankheit, sondern stellt für alle Menschen eine Bedrohung dar. Seit etwa zwölf Jahren ist es zunehmend schwieriger geworden, diese Gefahr zu kommunizieren, denn bessere Medikamente haben für gute Chancen auf ein längeres Leben und eine Integration im Berufsleben gesorgt. Einer, der aber seit 16 Jahren nicht aufgab und es wie kein anderer verstand, Aids öffentlich zu thematisieren, ist Gery Keszler.

Heterosexualisierende Euro 08

Die Anfeindungen gegen Keszler und den Life Ball haben durchwegs homophoben Ursprung. So schrieb eine Zeitschrift vom „Berufsschwuchtel“ Gery Keszler. Nach einem Gerichtsurteil darf der Life-Ball-Organisator so genannt werden. Die Antwort war Solidarität, eine Menge prominenter Menschen zogen sich ein T-Shirt mit genau diesem Aufdruck an, um auf Ausgrenzungen und Diskriminierungen aufmerksam zu machen. Oder würde jemand auf die Idee kommen, beispielswiese Franzobel „Berufshetero“ zu nennen? Lesben und Schwule sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und wurden sichtbar – in Kultur, Showgeschäft, Politik, und langsam, aber doch, sogar im Sport. Das erzeugt noch immer Widerstand und enthüllt homophobes Verhalten, offenbar auch bei gefeierten Schriftstellern.

Der Life Ball ist schrill, bunt, laut und exaltiert und gibt eine deutliche Antwort auf Aids: Leben und Lebensfreude, Ja zu Sex und Spaß – nur eben mit Kondom. Sogar heterosexuelle Frauen und Männer haben Spaß daran, bei diesem Event ihre Geschlechterrollen zu hinterfragen oder in Fantasiekostüme zu schlüpfen. Das Spektakel lockt mittlerweile 45.000 Menschen auf den Rathausplatz. Zum Life Ball gehören unzählige Superstars, Adabeis und Polit-Prominenz. Dass diese an den Life-Ball-losen Tagen durch Ausgrenzungen auffallen und Diskriminierungen mit Achselzucken zur Kenntnis nehmen, aber während des Life Balls ungeniert in die Kamera lächeln, ist traurig. Aber immerhin rückt der Life Ball diesem Mechanismen auf die Pelle. Dass Franzobel wohl ungewollt selbst zum Ausgrenzer wird, stimmt nachdenklich. Oder wird er uns im Juni mit einem Artikel über die Heterosexualisierung der Stadt während der Euro 08 beglücken?