32 Postkarten – Erinnerungskultur im Internet

Wie gehen wir mit Geschichte um? Wie können Geschichten erzählt werden, die vergangen sind, aber heute noch von Bedeutung sind? Wie vermittelt man Gräuel und Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus? Diese Fragen beschäftigen viele Menschen – immer noch. In diesen Diskussionen werden dann viele Fragen gestellt. Zum Beispiel: Wie und wo könnte ein Mahnmal stehen, eine Tafel angebracht werden oder ein Stolperstein in eine Straße eingelassen werden?

 
Es gibt aber einen Ort, in dem Erinnerungskultur sehr gut vermittelt werden kann: Das Internet. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Projekt 32 Postkarten.
Torkel S. Wächter ist schwedischer Schriftsteller und entstammt einer Hamburger jüdischen Familie. Sein Vater, Walter Wächter, befand sich in der Zeit des NS-Regimes drei Jahre in Haft und floh 1940 nach Schweden. Seine Eltern blieben in Hamburg und schickten dem Sohn 1940 und 1941 32 Postkarten. Später wurden seine in Deutschland verbliebenen Verwandte deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. In Schweden war Walter Mitglied der linkszionistischen Gruppe Hechaluz und plante eigentlich nach Palästina auszuwandern. Nach dem Krieg wurde im Hause Wächter kein Deutsch mehr gesprochen, über die Vergangenheit wurde geschwiegen. Für die Kinder, die mehr über die Vergangenheit ihrer Familie und ihrer Wurzeln wissen wollten, also eine schwierige Sache.
Auf dem Dachboden fand Torkel S. Wächter die 32 Postkarten, die seine Großeltern seinem Vater geschickt hatten.
Die Postkarten sind auf vorbildlicher Weise ins Web gestellt worden. Jede Postkarte wird in Echtzeit – allerdings 70 Jahre danach – online gestellt. Eine Postkarte beinhaltet den Originaltext (Deutsch und Englisch), einen Kommentar, der die Hintergründe erklärt (ebenfalls zweisprachig) sowie Faksimiles der handgeschriebenen Karten.
Wann erscheint die nächste Postkarte? Das wird ebenfalls auf der Website gefragt. Wer sich in den Newsletter einträgt, wird per Email informiert, wann die nächste Karte veröffentlicht wird – genau 70 Jahre nach dem Original. Bisher sind 14 veröffentlicht.
Zusätzliche Informationen auf der Website – Biografien zu einzelnen Familienmitglieder, alte Familienfotos, Presse-Echo usw. – vervollständigen das Bild der Familie Wächter.
Das Internet als Ort der Erinnerung! Hier wurde dieses Konzept exemplarisch umgesetzt.

Vergleiche Blogpost März 2009: Gedenken im Internet. Eine Ausstellung über den 10. Mai 1940.
LINK: 32 Postkarten

 

Seegasse 16 – Wie Schweden Juden halfen

Ich habe mehrmals in Interviews und dergleichen festgehalten, dass ich es schade finde, dass Österreich ausschließlich (und natürlich richtigerweise!) die Täter und Täterinnen des Nationalsozialismus behandelt. Allerdings fehlt hierzulande schon lange die Erinnerung an die Helden und Heldinnen, an die Leute, die geholfen haben!Heute um 17:30 Uhr findet ein besonderer Abend statt, an dem ich mitwirken darf. Ich lese im Schauspielhaus in der Porzellangasse auch aus Originalbriefen. Die Evangelische Akademie erinnert sich an die Schwedische Mission, die in der Seegasse 16 stationiert war. Hier der Text der Evangelischen Akademie:Von der Schwedischen Evangelischen Kirche geführt, befand sich in der Seegasse 16 im 9. Bezirk ein sogenannte „Israelmission“, wo Missionstätigkeit, aber auch Sozialarbeit, Jugendarbeit, Vortragstätigkeit… stattfand. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wandelte sich „die Seegasse“ aber vor allem auch zu einer Auswanderungsstelle für jüdische MitbürgerInnen. Durch Lesungen aus Originaldokumenten, Briefen und Auswanderungsunterlagen soll gezeigt werden, wie es der schwedischen Kirche, vor allem dem schwedischen Pfarrer und seinen Gemeindeschwestern durch gelungen ist, 3 Jahre hindurch Menschen zur Ausreise zu verhelfen, aber auch wie es einigen dieser Menschen danach erging.Der Abend beginnt mit einem Kunstprojekt von Arye Wachsmuth der Seegasse. Von dort aus gehen die TeilnehmerInnen gemeinsam in die Porzellangasse.Zeit:17:30 – 21:30 UhrOrt:Seegasse 16 – Schauspielhaus Porzellangasse 191090 WienKosten:Euro 15,-/10,- ermäßigt

Ich lade ins Kino: 8.11., 19:30 im Cinemagic: Zwischen allen Stühlen

Ich lade gemeinsam mit Stadtrat David Ellensohn und dem KlezMORE Festival ins Kino:
Zwischen allen Stühlen – Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer
Cinemagic (ehem. Opernkino), Friedrichstraße 4 (Karlsplatz), 1010 Wien
8. November 2010
Beginn: 19: 30 Uhr
rechtzeitig vorher dort sein (Zählkarten!)
EINTRITT FREI
in Anwesenheit von Karl Pfeifer

Da kommt ein 10-jähriger jüdischer Bub in Baden bei Wien rein rational drauf, dass es Gott gar nicht geben kann, flieht vor den Nazis nach Ungarn, von dort nach Palästina, wo er im Kibbuz lebt. Dort erhofft er sich einen sozialistischen Staat zu erkämpfen und schließt sich dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg an, um wieder nach Österreich zurück zu kehren.

Als jüdischer Heimkehrer wissen die Behörden nicht, was sie tun sollen und verhören den jungen Mann. Nach dem Krieg versucht er immer wieder Österreich zu verlassen (Schweiz, London, Neuseeland), aber immer wieder kommt er nach Österreich – das Land, das ihn einst verjagte und doch nicht loslassen will. Und hier kämpft er unermüdlich für die Dissidenten in Ungarn und gegen Antisemitismus in Österreich. 

 

 

Ein gelungener Zeitzeugenfilm von Daniel Binder, Mary Kreutzer, Ingo Lauggaas, Maria Pohn-Weidinger und Thomas Schmidinger  

 

 

Eine Rezension des Films habe ich bereits vor zwei Jahren geschrieben: HIER

Ich freue mich, euch im Kino begrüßen zu können. Es ist meine vorläufig (!!) letzte Einladung als noch amtierender Gemeinderat und zum Teil auch ein programmatischer Abschied…

Warum der 8. Mai und nicht der 26. Oktober Nationalfeiertag sein muss.

Diesen Blogbeitrag habe ich am 3.5.2010 geschrieben. Da morgen österreichischer Nationalfeiertag ist, stelle ich ihn nochmal nach oben:
Österreich feiert seit 1965 am 26. Oktober den Nationalfeiertag, seit 1967 ist es auch ein gesetzlicher Feiertag.
Der 26. Oktober

Der Grund, warum am 26. Oktober gefeiert wird ist bekannt, wenn man in der Schule aufgepasst hat: Der Staatsvertrag wurde im Mai 1955 unterschrieben. Darin wurde Österreich als souveräner Staat anerkannt, die alliierten Truppen Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten gingen im Fall Österreich einen anderen Weg, als er etwa in Deutschland gegangen wurde: Dort nämlich mit Zweiteilung des Landes und der (Noch-) Hauptstadt. Durchaus möglich gewesen, dass dies in Österreich auch passiert wäre. Tat es aber nicht, eben weil die vier Staaten Österreich den Staatsvertrag gaben, bzw. dieser verhandelt wurde.
Am 27.7.1955 begann eine 90-Tages-Frist, in er alle Truppen der Signitarstaaten Österreich verlassen haben sollten. Diese Frist endete am 25.10.1955. Am ersten Tag ohne Truppen anderer Länder auf österreichischem Staatsgebiet erklärte der Nationalrat die immerwährende Neutralität Österreichs.
ÖVP-Unterrichtsminister Heinrich Drimmel machte sich besonders stark für diesen Tag als Gedenktag. Bereits am 25.10. erließ er, dass alle Schulen die österreichische Fahne hissen sollten. Im Jahr darauf wurde der 26.10. als Tag der Fahne eingeführt, um eben 1965 zum offiziellen Nationalfeiertag erklärt zu werden.
Das feiern wir also. Nicht die Befreiung vom Nationalsozialismus, sondern den ersten Tag, an dem die Befreier endlich verschwanden. Was ist das eigentlich für eine Haltung, der zu dieser Entscheidung führte?
Der 8. Mai
Am 8. Mai kapitulierte das nationalsozialistische Deutschland vor den Truppen der Alliierten. Frankreich, Großbritannien, Russland, die USA, Kanada und viele andere hatten Europa – und auch Österreich, das sich so gerne als erstes Nazi-Opfer darstellte – vor den Nationalsozialisten befreit. Bis heute gilt dieser Tag in vielen europäischen Ländern als Gedenktag (mit einigen Tagen auf und ab, je nach Befreiungszeitpunkt des Landes).
In den Niederlanden etwa gedenkt man am 4.5. den Toten des 2. Weltkriegs und den Nazi-Opferm, am Tag darauf feiert man die Befreiung von den Nazis. Wer das Gedenken in den Niederlanden schon einmal erlebt hat, bekam wahrscheinlich Gänsehaut, wenn auch viele Jahrzehnte später das Land um Punkt 20 Uhr zwei Minuten völlig still steht – in Restaurants, auf Autobahnen oder im Zugverkehr.
Warum passierte in Österreich so etwas nicht? Warum hat man nicht allen Österreicherinnen und Österreichern die Möglichkeit gegeben, den Toten zu erinnern, an den Terror des Nationalsozialismus zu mahnen, den verfolgten und ermordeten Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, politisch Verfolgten, etc. zu gedenken? Warum feiert man stattdessen das Verschwinden der Befreier?
Ich finde die Entscheidung, am 26. Oktober den Nationalfeiertag zu feiern, inakzeptabel. Es kann das Abziehen der Alliierten nicht als für Österreich wichtiger dargestellt werden, als die Befreiung vor dem Terror des NS-Regimes. Das ist historischer Unfug und vermittelt auch 55 Jahre nach Unterzeichnung des Staatsvertrags die Botschaft, dass die „Befreiung“ von den Alliierten quasi ein Sieg Österreichs wäre, und nicht die Befreiung vom Nationalsozialismus.
Die Tatsache, dass am 26.10. Nationalfeiertag ist, beweist aber auch den enorm schlampigen Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit und seiner historischen Verantwortungslosigkeit.
Anderes Beispiel gefällig?
Wo in diesem Land werden die Menschen, die Verfolgten Opfern des NS-Regimes Schutz gewährten oder jüdische Familien versteckten, gefeiert, geehrt und ihnen Standbilder errichtet? Warum gibt es keine Anne-Frank-Stiftung oder eine ähnliche Einrichtung in diesem Land, die diese Menschen erforscht und ihnen ein Denkmal errichtet? Warum ehrt man nicht die Helden des Alltags, die manchmal klein und vorsichtig doch eine Menge Zivilcourage aufbrachten?
Es wird Zeit, dass Österreich endlich Verantwortung übernimmt, die Wahrheit sagt und die echten Heldinnen und Helden auch als solche wahrgenommen werden (siehe in diesem Blogbeitrag die Artikel zur Wienerin Miep Gies hier, hier und hier).
Den Nationalfeiertag auf den 8. Mai zu verlegen, wäre ein guter Beginn. Ich fordere das!
Verwandter Artikel:
Interview im „David“: Miep Gies, Vergangenheitsbewältigung, politische Motivation und die Niederlande.

 

Foto: Totengedenken (dodenherdenking) am 4.5. in Amsterdam. 

Der neue Heinz Heger-Park. Oder wie Homosexuelle weiter versteckt werden.

Heute hatte ich die Freude, bei der Eröffnung des neuen Heinz Heger-Parks am Zimmermannplatz im Alsergrund, dabei gewesen zu sein. Entstanden ist diese Sache so: Am Zimmerplatz 1 befindet sich die Ordination von Dr. Horst Schalk, eine Arztpraxis, die sich gezielt an schwule Männer richtet. Mit Dr. Schalk besuchte ich 2005 die Ausstellung geheimsache:leben. Als wir uns die Dokumente von und über Heinz Heger ansahen, sagte ich zu ihm: „Schau mal, der wohnte an deiner Adresse!“
Daraufhin wurde Dr. Schalk sehr aktiv, schaltete die Wiener Antidiskriminierungssstelle ein, dessen Mitarbeiter Wolfgang Wilhelm auch die SP-„Sektion Andersrum“ im 6. Bezirk betreut. In diesem Rahmen kontaktierten die Beiden die Bezirkspolitiker_innen im 9. Bezirk. Nach längerem Hin und Her wurde eine Umbenennung des Zimmermannplatzes zwar nicht erreicht (das macht die Stadt Wien nur sehr selten, da alle Anrainer_innen sonst von Visitenkarten bis Kreditkarten alles ändern müssten), aber eine neu gestaltete Grünfläche wurde – eben heute – nach Heinz Heger benannt. Die Bezirksvorsteherin Martina Malyar enthüllte heute dazu die Tafel mit Wolfgang Wilhelm und Dr. Horst Schalk. Zur Tafel später mehr…
Wer war Heinz Heger?
Heinz Heger überlebte sechs Jahre Konzentrationslager und trug den Rosa Winkel, das Zeichen schwuler Opfer. Seine Erinnerungen sind in seinem Buch „Der Mann mit dem rosa Winkel“ veröffentlicht. Nach dem Krieg versuchte er seine Haftzeiten als Pension anrechnen zu lassen (was ihm schlussendlich gelang) und wollte die Aufnahme des Haftgrunds Homosexualität ins Opferfürsorgegesetz, was ihm zeitlebens verwehrt wurde.
Die Familie von Heinz Heger wollte nie, das sein Name bekannt wurde. Zu sehr scheinen sie sich auch im 21. Jahrhundert noch zu schämen ein schwules NS-Opfer in der Familie zu haben. Deswegen wird auch heute noch das Pseudonym Heinz Heger benutzt, obwohl sein richtiger Name schon längst – von New York Times bis zu diesem Wikipedia-Eintrag – bekannt ist.
Eine tragische Anekdote aus dem Leben des Heinz Heger, war der Umgang mit seinem Rosa Winkel, den letzten der noch weltweit existiert! Kein österreichisches Museum, kein Archiv, niemand hierzulande wollte ihn haben. Deswegen liegt das letzte Exemplar im Holocaust-Museum in Washington. Auch ein Sittenbild Österreichs…
Die Tafel im Heinz Heger-Park
Die Tafel, die heute im Heinz Heger-Park enthüllt wurde, löste bei den Teilnehmer_innen Schock bis Irritationen aus. Mit KEINEM Wort wird auf der Tafel erwähnt, warum Heinz Heger verfolgt wurde, welches Buch er geschrieben hat, rein gar nichts. Die Bezirksvorsteherin merkte die Irritationen dann sehr bald und versprach, dies in den nächsten drei Wochen zu korrigieren.
Wollen wir’s hoffen! Ich werde das jedenfalls genau beobachten. Dass auf der Tafel unten Hundeverbote und andere Verbotshinweise angebracht sind, scheint mir auch mehr als unpassend. Erinnern ist ja offensichtlich keine Stärke der Stadt. Wenn’s um Homosexuelle geht, gilt das erst recht. Die werden auch in der Erinnerung wieder versteckt. Falscher geht’s nicht mehr.

 

Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs auf BZÖisch

Kennen Sie die Ursachen des Zweiten Weltkriegs? Ich vermute (und habe da hoffentlich einigermaßen Recht), dass ein Großteil der Österreicher_innen diese Frage beantworten könnten. Hitler, Polen, Blitzkrieg, 1. September 1939, usw. Wer sich vertiefen will, sei dieser ausgezeichneter Wikepdia-Eintrag empfohlen.Dem Klagenfurter Bürgermeister Christian Scheider vom BZÖ wurde die oben gestellte Frage ebenso gestellt. Hier seine unfassbare Antwort:Dass Menschen mit solchem Geschichtsbewusstsein Bürgermeister einer Landeshauptstadt werden können, wird vielen Menschen höchstens ein Achselzucken wert sein. Letzteres ist genau so ein Problem dieses Landes, wie dieser Bürgermeister, der meiner Meinung nach, mit so einer Antwort rücktrittsreif ist, auch wenn das Video wohl schon etwas älter ist…Danke an Niko Alm, der dieses Video postete (hier).

Treten Sie zurück, Herr Martin Graf!

Das wirklich traurige an der Causa Martin Graf ist ja: Wir haben gewarnt. Die Grünen haben gewarnt, gemahnt, erinnert, recherchiert und geschrieen! Doch ein Großteil der Nationalratsabgeordnete der SPÖ und der ÖVP meinten zu Beginn der Legislaturperiode, dass Martin Graf ruhig 3. Nationalratspräsident werden könne. Und nun erfolgt die Rechnung seitens dieses Mannes, der nicht abgewählt werden kann, und schon gar nicht zurücktreten will.
Wie in diesem Land schlampig, fahrlässig und gleichgültig mit nationalsozialistischem Gedankengut umgegangen wird, ist nicht mehr zu ertragen. Martin Graf ist eine Schande für ein modernes, demokratisches, freies und aufgeklärtes Österreich. Darüber hinaus braucht Österreich dringend eine Debatte über die Grundwerte dieser Republik und des Zusammenlebens hier.
Irgendwie habe ich immer den Eindruck, dass diese Debatte aber auch von den Großparteien nicht wirklich gewollt wird. Denn, wenn wir unsere Spielregeln debattieren und definieren wollen, die Abgrenzung zu Totalitarismus, Hetze und Hass gegen Minderheiten beinhalten müsste, könnte auch der Wunsch geäußert werden, mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Öffentlichkeit sei wünschenswert – und das widerstrebt wohl auch die in diesem Land immer noch alles beherrschende Proporz-Herrschaft. Man denke nur daran, dass bei der Wahl eines Automobilclubs, eines Sportklubs, einer Ambulanz oder bei welcher Außenplakatfirma man Aufträge verteilt, immer die Wahl zwischen Schwarz oder Rot fallen muss. Und irgendwie gehört das alles zusammen – es fehlt diese Identität, dieser Grundwert der Republik, dessen Repräsentant Martin Graf ist (als 3. NR-Präsident ist er auf Platz 4 Österreichs). Eine widerliche Logik, den aufgrund dieser Logik wurde Graf ja von SP und VP mitgewählt…

Eine Petition ging heute online: Martin Graf muss gehen! Bitte unterstützt diese Petition mit einer Unterschrift. HIER!

Eine sehr gute Auflistung („Best of“), was Martin Graf in den letzten Jahren alles gemacht hat, gibt es auf dem Blog The Flowers Are Gone hier. Sehr empfehlenswert!

Als Zeuge Jehovas aufgewachsen.

Vor einigen Tagen wurden die Zeugen Jehovas als Religion offiziell anerkannt. Zeitungen berichteten viel darüber und auch ich wurde diesbezüglich immer wieder angesprochen und nach meiner Meinung gefragt. Dabei sind meine Gesprächspartner_innen immer sehr überrascht, wenn ich sage: „Ich bin da leicht befangen, kenne die NS-Verfolgungsgeschichte sehr gut, denn ich wuchs selbst als einer auf!“ Als Reaktion folgt dann meist eine Mischung aus Unglauben und Staunen, und manchmal habe ich sogar den Eindruck, ich mache mit dem Satz sprachlos, da ich vielmehr als weltoffener schwuler Mann bekannt bin. Der Weg ein solcher zu werden, war aber ein sehr langer. Ich kann daher hier nur sehr verkürzt zusammenfassen, obwohl es ein langer Text wird. Ich hoffe, Eure Geduld reicht.

Ich erzähle diese private Geschichte übrigens nicht aus dem Bedürfnis eines Seelenstriptease heraus. Ich glaube einfach, es hat auch gesellschaftliche Bedeutung. Die Abwägung, wieviel Privates öffentlich gemacht werden kann, ist immer schwierig, denn auch Privat ist oft sehr Politisch. Ich hoffe ich schaffe es, denn dieser Beitrag kostet mir schon Nerven, Tränen aber zum Glück keine mehr.

Kindheit, Pubertät und „schwere Prüfungen“

Im Grunde wuchs ich ganz normal in einer sehr liebevollen Familie auf – zuerst in den Niederlanden und später im Salzkammergut. Der Unterschied war aber, dass ich nicht in eine Kirche, eine Synagoge oder eine Moschee mitgenommen wurde, sondern eben in den Königreichssaal, wie die Versammlungsorte heißen. Ich ging mit Eltern und anderen JZ von Tür zu Tür, wollte bzw. musste Wachtturm und Erwachet verbreiten und wurde im Bibel lesen und interpretieren geschult. Somit war die Religion von Anfang an ein ganz normaler Bestandteil meines Lebens. Aber schon in früher Kindheit wurde mir klar gemacht: Innerhalb der Glaubensbrüder und -schwester ist man „in der Wahrheit“ und die Welt da draußen ist eben „die Welt“, was durchaus abwertend gemeint war. Das hat seinen theologischen Grund, denn die JZ glauben, dass wir seit 1914 in der Endzeit leben, der Teufel die Welt für kurze Zeit regiert und Armageddon bald kommt, um das Böse zu beseitigen. Daher gilt es noch rasch viele Menschen von der Wahrheit zu überzeugen. Das ist schon eine ganz schöne Herausforderung als Kind: Will ich bald sterben oder ewig leben? Da fällt die Entscheidung erstmals nicht besonders schwer und so strengt man sich eben an. Dass wir weder Weihnachten noch Geburtstage feierten, empfand ich merkwürdigerweise sogar als überlegen und machte mir überhaupt nichts aus. Ich beneidete die anderen Kids gar nicht. Die wiederum sahen mich schon immer als etwas „anderes“. Als JZ in die Schule zu gehen, bedeutet auch immer, auf das reduziert zu werden.

Trotzdem geht man in die Schule, schaut Fernsehen und liest Bücher und alles um dich herum ist aus „der Welt“. Hier ist also die erste große Herausforderung, die von den JZ auch immer wieder betont und mitgegeben wurde, denn all diese Einflüsse werden als „Prüfung“ dargestellt, mit der Gott uns ständig testet. In der Pubertät wird es dann freilich am schwierigsten. Als meine Sexualität (bei mir sehr früh!) sich bemerkbar machte, gefiel es mir gut. Eh klar. Mir über die Ursachen noch völlig unbewusst, referierte ich im Deutschunterricht lieber über Thomas Mann als über Hermann Hesse, lieber über Oscar Wilde als über Edgar Allan Poe. Meine Selbsterkenntnis zum gleichen Geschlecht zu tendieren, war sehr früh vorhanden – im Grunde noch bevor ich überhaupt Sexualität begriff, wovon ich mittlerweile überzeugt bin. Die ersten Phantasien setzten sich im Kopf fest und es folgten bald auch die ersten Erfahrungen, zuerst Onanie und später eben mit Partner und Partnerinnen (ich probierte beides aus, denn wollte „es“ ja wissen). Ich bemerkte rasch, dass der Glauben, in der ich erzogen wurde mit mir als Mensch nicht kompatibel war.

Coming-out und Glaube

Als die ersten Schulfreundinnen (ja, es waren allesamt Mädchen, Burschen gegenüber outete ich mich erst später) Mitte der 80-er Jahre von mir eingeweiht wurden, und sie mein Schwulsein erstaunlich locker akzeptierten, war mir trotzdem bewusst, dass ich als schwuler Mann nicht nur bei den JZ Schwierigkeiten haben würde, sondern auch in der Gesellschaft. Ich fühlte mich ganz allein auf der Welt, Internet gab’s noch nicht, ich kannte keine anderen Lesben und Schwulen, wusste gar nicht wo die sind und wie man sie erkennt. Dass ich einige Klassenkollegen Jahre später wieder in der Rosa Lila Villa treffen sollte, konnte ich damals nicht ahnen. Es folgte trotzdem eine rasche Emanzipation, die erstmal in ein Doppelleben führte. In der Schule und in „der Stadt“ (das war in diesem Fall tatsächlich Bad Ischl) suchte ich nach meiner Identität, zuhause mimte ich den braven Zeugen. Das tat ich nicht mehr nur aus Unsicherheit, zu welchen der beiden Lebensrealitäten ich nun wirklich gehörte, sondern ich wollte natürlich vor allem meine Eltern nicht enttäuschen.

Dann startete ich ein Ablenkungsmanöver, der sehr entscheidend war: Ich begann zu rauchen, was bei den JZ streng verboten ist. Rauchen ist sichtbar, Homosexualität ist es nicht. Rasch wurde mein Zigarettenkonsum zu einem Thema in der Schule, bei meinen Eltern, bei den „Ältesten“ der JZ, die sowas wie moralische und theologische Führer sind, und ich bekam die durchaus beabsichtigten Schwierigkeiten. Der Grund, warum Rauchen verboten war: Man verschmutzt seinen Körper und die der anderen. Auf meine Gegenfrage, warum dann etwa Autofahren oder Energieverbrauch aus kalorischen Kraftwerken (ja, es war die Hainburg-Zeit und ich ein früher Grün-Symphatisant!) dann erlaubt seien, bekam ich keine Antwort. Es war klar, dass ich die JZ nun verlassen konnte – mit allen Dramen, die damit verbunden sind. Die größte Angst, die ich freilich hatte, war vor Liebensentzug meiner Familie. Ich konzentrierte mich aber auf meine Matura, um gleich danach nach Wien zu ziehen, „um mal mit mir selbst zu wohnen“, wie ich das damals formulierte.

Das Leben danach

In Wien studierte ich, lebte mein Leben, wie ich es mir vorstellte und wurde eben das, was ich heute bin. Der Liebesentzug der Familie fand nicht statt. Leicht war es trotzdem nicht – für beide Seiten nicht. Ich wusste, dass ich für meine Angehörigen ein „verlorener Sohn“ war, mit dem sie kein ewiges Leben genießen werden (sicherlich eine schreckliche Vorstellung), und ich war auf den Weg meine Identität zu finden und mich selbst zu bejahen, was auch gelang. Das Glück, das ich fand, war stärker als alles andere, was ich davor erlebte und mir wurde bald sonnenklar: Religionen sind ein Hindernis zum Glück, vielmehr eine menschliche Erfindung um andere Menschen zu kontrollieren und zu maßregeln. Männer machten im Namen von Götter – und später eines Gottes – Regeln, um ganze Gesellschaften im Griff zu haben und die Frau zu unterdrücken. Männliche Moralvorstellungen wurden zum Maßstab. Ich lehnte Religionen ab diesem Zeitpunkt ab.
Bald meldeten sich Gruppen und Vereine ehemaliger Jehovas Zeugen. Ich hörte mir an, was sie zu sagen hatten, denn ich war durchaus bereit speziell Lesben und Schwulen in ähnlicher Situation zu helfen. Doch die Vereine waren genau so missionarisch und kämpferisch, wie die JZ selbst. Mir gefielen die genau so wenig. Sie verbreiteten Vorurteile, die ich so nicht erlebte. Als sie etwa irgendwo kommunizierten (leider vergessen wo), Eltern würden ihre Kinder misshandeln, wandte ich mich mit Grauen ab. Die Welt der JZ, die da geschildert wurde, war nicht die Welt, in der ich aufwuchs, also stimmte auch die Gegenpropaganda zu einem erheblichen Teil nicht.

Was ich allerdings wirklich lernte, war etwas ganz anderes, als die Vereine Ehemaliger praktizierten. In meiner Familie spielte (und spielt) die Religion der Jehovas Zeugen noch immer eine große Rolle – zumal mein Vater plötzlich bei einer Bergtour zu jung ums Leben kam. Ich wollte nach dem Bruch und der Emanzipation wieder eine Beziehung aufbauen, die eben auf einem anderen Fundament gebaut werden musste, sollte eine Beziehung überhaupt funktionieren. Dazu war es notwendig einmal darüber nachzudenken, was ich brauche – und was ich dafür geben muss.

Respekt ist ein gern benütztes, aber viel zu selten gelebtes Wort. Doch es war Respekt, der half. Und zwar wirklicher Respekt! Denn, wenn ich als schwuler Mann respektiert und anerkannt werden will, war es – so war mir sehr bald klar – auch notwendig diesen Respekt selbst anzubieten. Natürlich hätte ich ebenso eine argumentative Auseinandersetzung beginnen können, um zu überzeugen, dass das Leben, so wie ich es lebe, in Ordnung ist und nicht verurteilt werden kann. Aber dann wird es erst recht wieder zu einer Glaubensfrage und einem privaten Krieg. Ich wusste einfach, dass das scheitern würde – ja musste. Also respektierte ich die Religion meiner Angehörigen, wusste wie sie denken und glauben und sprach das auch offen aus. Daraufhin erhielt ich den Respekt und die Anerkennung für meinen Weg und meine Identität – und schließlich auch für meine Lebenspartner. Eine Erkenntnis, die für mich auch politisch prägend war: Einander das Leben, das wir nunmal lebten und leben, leben lassen, einander respektieren – und so schaffen wir tatsächlich ein friedliches Miteinander, mit dem ganz klaren Wissen und dem Bewusstsein um die gravierenden Unterschiede.

Jehovas Zeugen in der NS-Zeit

Ein mir wichtiger Exkurs widme ich jetzt meinem Nachbarn aus meiner Kindheit, den ich damals bewunderte und den ich jetzt immer noch bewundere: Leopold Engleitner (siehe Wikipedia Eintrag über ihn), geboren 1905 und immer noch bei St. Wolfgang im Salzkammergut lebend. Er gilt mittlerweile als einer der ältesten KZ-Überlebenden der Welt (wenn nicht sogar der Älteste). Er wurde verfolgt, weil er Zeuge Jehovas war, überlebte das Grauen mehrerer Konzentrationslager und erzählt heute fast 105-jährig immer noch seine Geschichte auf der ganzen Welt (vergleiche diesen berührenden Artikel). Wir kannten ihn sehr gut, weil er eben unser Nachbar war, nahmen ihn mit unserem Auto mit in den Königreichssaal und sahen ihn zwei bis drei Mal in der Woche.

Jehovas Zeugen wurden während der Schreckenszeit des Nationalsozialismus verfolgt, deportiert und ermordet. Als Bibelforscher bezeichnet, hatten sie einige Erkennungsmerkmale in den Konzentrationslagern. Diese Geschichte ist wichtig zu wissen – auch im Zuge der momentan stattfindenden Debatte über die offizielle Anerkennung.

Jehovas Zeugen offiziell anerkennen?

Ich bin tatsächlich der Meinung, dass die offizielle Anerkennung der Jehovas Zeugen in Ordnung geht. Mein Beweggrund dafür ist zugegeben ein persönlicher, hat für mich aber auch allgemein politische Bedeutung. Denn nach dem Wissen der Verfolgungen und des Terrors gegen JZ, finde ich gut, dass sie nunmehr wissen, anerkannt zu sein, und sie sich somit nicht fürchten müssen. Denn bei Zeugen Jehovas ist es ähnlich wie bei Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, Lesben und Schwule, Menschen mit Behinderungen, usw: Sie müssen wissen, dass sie im Notfall geschützt und nicht verfolgt werden. Das verstehe ich. Persönlich wird diese Erkenntnis, wenn ich daran denke, dass eine Betroffene von Verfolgung etwa meine Mutter wäre.

Die Diskussion die stattdessen viel mehr notwendig ist: Wie trennen wir Religion und Staat? Wie kann ein gesellschaftliches Leben in Respekt und Anerkennung funktionieren, und trotzdem die Errungenschaften der Aufklärung, der Menschenrechte, der Emanzipationen verschiedener Gruppen und der Demokratie geschützt werden? Daher halte ich eine Diskussion über Privilegien, die JZ nun zustehen, für falsch. Es geht vielmehr überhaupt über den Umgang mit allen Religionen und ihren Stellenwert in Gesellschaft und Öffentlichkeit. Diese Diskussion kann und soll man nicht auf den Rücken einer einzigen Religion austragen, da dies genau zur Stigmatisierung einer einzigen Gruppe führt, die so gefährlich ist. Wenn wir schon darüber diskutieren – über Privilegien, Konkordat und andere Zugeständnisse  – dann müssen wir über alle Religionen gleichwertig und gleichermaßen reden – inklusive der Mächtigsten: der katholischen Kirche. Und da bin ich sehr der Meinung, dass viele Privilegien nicht mehr in Ordnung sind. Als Beispiel sei der Unterschied zwischen privaten und konfessionellen Schulen genannt, wie in diesem Blogbeitrag Christoph Chorherrs genannt.
 

Warten auf das Homo-Mahnmal am Morzinplatz

Vor drei Jahren wurde das Siegerprojekt von Kulturstadtrat Mailath-Pokorny präsentiert: Wien sollte einen Rosa Platz am Morzinplatz erhalten – ein Erinnern an die homosexuellen Opfer der NS-Zeit. Als Mahnmal gegen Homophobie in der Zukunft. Hans Kuppelwieser gewann mit seinem Projekt: einem mit rosa Wasser gefüllten Becken, darin steht der Schriftzug QUE(E)R. Warum das zweite E in Klammer ist, verstehe ich bis heute nicht, aber sei’s drum. Eine Jury und ein Community Board, in der ich auch drin saß, hat das so entschieden.
Daraus wurde aber nichts. 2007 hätte das Mahnmal eröffnet werden sollen, jedoch konnte keine alltagstaugliche Flüssigkeit gefunden werden, die rosa ist und funktioniert. Bei einer Mündlichen Anfrage die ich im Gemeinderat stellte, antwortete der Stadtrat, im Prater wäre ein Versuchsbecken errichtet worden, aber es konnte keine Lösung gefunden werden. Daher wurde der Künstler gebeten, das Projekt völlig neu umzuarbeiten.
Heute flammte die Diskussion wieder auf (siehe APA-Meldung im Standard hier). Wir erfahren – nur weil ein Journalist mal nachfragte – das ein neues Projekt geprüft werde. Ohne Jury, ohne öffentliche Diskussion und ohne Beteiligung der Community. Das halte ich für die falscheste Herangehensweise überhaupt! Denn gerade eine Diskussion über ein Mahnmal, was es können und ausdrücken soll, ist Teil des Mahnens. Es geht ja nicht nur um das Erinnern an das Vergangene, sondern auch um die Perspektive in die Zukunft. Damit eben Homophobie nie wieder derart grausame Verfolgungen zur Folge hat! Nicht hier, und nicht anderswo auf der Welt.
Daher irrt meiner Meinung nach auch Christian Högl von der HOSI Wien, wenn er zum noch immer nicht existierenden Mahnmal meint, es gäbe ja nur noch wenig lebende Überlebende, und daher „gehe [es] auch um ein Signal, und da sei notfalls ein kleiner Gedenkstein besser als ein Monumentalprojekt, das nicht zu realisieren sei.“ Ein Mahnmal muss aber immer ein Signal auch für die Zukunft sein, und nicht bloßer Erinnern an Gewesenes, sonst hätte es ja keinen Sinn. Ein Mahnmal braucht zudem Öffentlichkeit und Debatte.
Ich erinnere mich heute wieder, wie Hannes Sulzenbacher (Leiter der Ausstellung geheimsache:leben und heute beim Kulturverein QWien) mir einmal seine Lieblingsversion eines Homo-Mahnmals erzählte: Am besten wir würden einen riesengroßen Bildschirm aufstellen, worauf geschrieben steht „Soll hier ein Mahnmal zur Erinnerung an homosexuelle NS-Opfer stehen?“ und alle Passant_innen können dann klicken: Ja oder Nein. Am Bildschirm steht dann immer das aktuelle Abstimmungsergebnis. Allein das wäre schon ein Mahnmal – und würde gleichzeitig viel über unsere heutige Zeit erzählen… Die Idee gefällt mir immer besser!

Der 100. Geburtstag von Miep Gies, Retterin der Anne Frank-Tagebücher und gebürtige Wienerin, wurde überall gefeiert. Nur nicht in Wien.

Miep Gies, am 15.2.1909 als Hermine Santrouschitz (auch Santruschitz geschrieben) in Wien geboren, feierte vor kurzem ihren 100. Geburtstag. Sie half der Familie von Anne Frank in ihrem Versteck in Amsterdam und rettete die berühmten Tagebücher des jüdischen Mädchens. Ob in den Niederlanden, in Israel oder in den USA: Überall wird sie als Heldin gefeiert. In Wien fehlt allerdings eine offizielle Würdigung. Das will ich ändern.

Als gebürtiger Niederländer ist mir dir Geschichte von Miep Gies seit meiner Kindheit vertraut. Umso überraschter bin ich immer wieder, dass in Wien kaum jemand weiß, dass sie eine gebürtige Wienerin ist. Miep Gies ist ein Musterbeispiel von Zivilcourage und Menschlichkeit. Daher beantragte ich vor einigen Tagen sowohl bei Bürgermeister Michael Häupl als auch bei Bundespräsident Heinz Fischer, Miep Gies offiziell zu würdigen und zu ehren. Immerhin ist sie der letzte noch lebende Mensch, der Anne Frank noch persönlich kannte.

Diesen Vorschlag hat auch der KURIER in seiner morgigen Ausgabe (3.4.2009) aufgenommen und berichtet darüber (leider nicht online), worüber ich mich sehr freue, da der Artikel sicher eine Hilfe dabei ist. Der Bundespräsident hat mir übrigens schon mitteilen lassen, dass eine Ehrung auf dem Weg ist. Was sehr erfreulich ist!

Der Wien-Bezug Anne Franks ist übrigens vielschichtiger, als den meisten Wiener_innen bekannt sein durfte. Auch der Mann, der 1944 die Familie Frank und die anderen untergetauchten Juden verhaftete, war ein Wiener: SS Oberscharführer Karl Silberbauer. Der war übrigens bei der Verhaftung völlig verdutzt, als Miep Gies sagte. „Sie sind ein Wiener! Ich auch.“ Das rettete Miep Gies im übrigen vor einer Verhaftung. Dabei ließ es die tapfere Frau aber auch nicht. Denn danach versuchte sie Silberbauer zu bestechen, damit er die Familie Frank freilässt.

Meine Kolleg_innen bei den Meidlinger Grünen, insbesondere Klubobmann Andreas Stöhr, und ich werden jedenfalls mit einigen Wünschen an die Stadt und an den Bezirk herangehen:

Benennung des Steinhage-Parks in Anne Frank-Park: Der Park zwischen Korbergasse (in Haus Nummer 12 lebte Miep Gies vor ihrer Reise in die Niederlande) und Steinhagegasse wird demnächst neu gestaltet. Zu diesem Anlass beantragen die Meidlinger Grünen die Umbenennung in Anne Frank-Park. Bislang ist keine Gasse oder Straße in Wien nach Anne Frank benannt.
Hinweisschild am ehemaligen Wohnhaus: Wir werden Gespräche führen, damit am ehemaligen Wohnhaus von Miep Gies in der Korbergasse 12 ein Schild angebracht wird. Diesbezügliche Gespräche mit einigen EigentümerInnen, sowie dem Niederländischem Verein in Wien (De Nederlandse Vereniging Wenen) sind am Laufen.
Offizielle Ehrungen: Der Bürgermeister der Stadt Wien, Michael Häupl, sowie Bundespräsident Heinz Fischer wurden von mir bereits angeschrieben. Darin werden sie ersucht, Miep Gies mit offiziellen Verdienstzeichen zu ehren. Von Michael Häupl hat mit übrigens mündlich zugesichert, dass eine Ehrung schnell ermöglicht werden soll. Der Bundespräsident will es, wie oben beschrieben, auch tun.
Schulprojekte: In Schulprojekten sollte die Geschichte der gebürtigen Wienerin Miep Gies Anlass zu historischer Auseinandersetzung mit den Tagebüchern der Anne Frank, sowie der Geschichte des Nationalsozialismus sein. Wir haben auch die Anne Frank-Stiftung kontaktiert, um herauszubekommen, an welcher Schule Miep Gies war. Denn gerade dort wäre ein Anne Frank-Projekt sehr, sehr schön! Wer Hinweise geben kann, den oder die bitte ich um eine Mail!

Biografie Miep Gies, geb. Hermine Santrouschitz
Kindheit in Wien, Leiden und Amsterdam
Miep Gies wurde am 15. Februar 1909 in Wien geboren. Sie erlebte den Ersten Weltkrieg als Kind einer Arbeiterfamilie. Nach dem Krieg gab es Hunger und Not in Wien. Als 1919 in der Familie ein zweites Kind geboren wurde, ergab sich 1920 eine gute Gelegenheit für die oft kranke Hermine. Die Niederländische Arbeiterberwegung (Nederlandse arbeidersvereniging) ermöglichte österreichischen Kindern aus in Not geratenen ArbeiterInnen-Familien die Möglichkeit, einige Monate in den Niederlanden zu verbringen. Im Dezember 1920 begab sich Hermine nach Holland.
Sie kam in Leiden an, wo sie Aufnahme in der Familie Nieuwenburg fand. Sie fühlte sich wohl, wurde liebevoll umsorgt, hatte wieder zu essen und wurde mittleweile „Miep“ genannt. Bereits 1921 sprach sie so gut Niederländisch, dass sie Klassenbeste wurde. 13-jährig übersiedelte Miep Santrouschitz mit ihrer Pflegefamilie ins Stadtteil Rivierenbuurt in Amsterdam.
1925 besuchte sie mit ihrer Pflegefamilie ihre Eltern und Schwester in Wien. Sowohl sie, als auch ihre Eltern, merkten bald, dass sie sich sehr an die Niederlande gewöhnt hatte und durfte mit der Familie Nieuwenburg nach Amsterdam zurückkehren. Dort schrieb sie – genau wie Anne Frank – intime Gedanken und Notizen, die sie allerdings später aus Scham vernichtete. Mit 18 Jahren verließ Miep die Schule und wurde Sekretärin in einem Textilbetrieb. 1933, mitten in der Weltwirtschaftskrise, wurde sie gekündigt. Sie war einige Monate arbeitslos, als ein Nachbar auf eine Firma hinwies, bei der sie womöglich arbeiten könnte. Die Firma hieß N.V. Nederlandsche Opekta Mij. und war auf das Produkt Opekta spezialisiert, einem Geliermittel, das beim Herstellen von Marmelade benützt wurde. Sie traf den Direktor des Betriebs und bekam den Job. Der Direktor hieß Otto Frank, Vater von Anne Frank.
Arbeit für Otto Frank
Mit Otto Frank – der noch alleine in Amsterdam lebte und auf seine Familie, die sich noch in Aachen aufhielt, wartete – verstand sich Miep sehr gut. Er entschuldigte sich für sein holpriges Niederländisch, worauf sie beide sich schnell in ihrer beider Muttersprache unterhielten: Deutsch. In einem Werbefilm für Opekta sah man Miep, wie sie Marmelade einkochte. Sie sprachen viel über Politik und beide waren gegen Hitler, der soeben Reichskanzler wurde und weswegen Frank nach Amsterdam übersiedelte. Die Familie Frank kam bis 1934 nach und lebte fortan in der niederländischen Hauptstadt. 1940 übersiedelte die Firma in ein größeres Haus an der Prinsengracht 263, heute das berühmte Anne Frank-Haus und -Museum.
Jan Gies
Noch in ihrer Zeit in der Textilfabrik lernte Miep Jan Gies kennen, mit dem sie auch ihr liebstes Hobby pflegte: Tanzen und ins Kino gehen. Die Wohnungssuche zu dieser Zeit war enorm schwierig, aber Voraussetzung für eine Hochzeit. Viele Flüchtlinge aus Deutschland und später aus Österreich und Polen kamen nach Amsterdam. 1938 wurde Österreich von den Nazis besetzt. Miep schrieb daraufhin einen Brief an Königin Wilhelmina und bat um die Niederländische Staatsbürgerschaft.
Die NS-Besatzung der Niederlande
1940 wurde die Niederlande von den Deutschen besetzt, Rotterdam zerstört. Otto Frank half damals und fand für Jan und Miep eine Wohnung. Es fehlte nur noch die Hochzeit, für die sie noch zuwenig Geld hatten. Sie waren mittlerweile auch privat mit der Familie Frank befreundet. Anfangs ging das normale Leben in Amsterdam weiter, doch nach und nach wurden Maßnahmen gegen die Juden in Amsterdam gesetzt. Miep machte sich nicht nur um die Familie Frank zunehmend Sorgen, sondern auch um sich selbst: Denn eines Tages wurde sie zum Deutschen Konsulat gerufen. Dort fragte man Miep, die noch immer die Österreichische Staatsbürgerschaft hatte, ob es stimme, dass sie sich geweigert habe in einer NS-Organisation beizutreten. Sie meinte, dass das stimme. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, dass sie in den nächsten drei Monaten nach Wien zurückzukehren habe. Zudem würde in dieser Zeit ohnehin ihr Reisepass ablaufen. Der einzige Ausweg war einen Niederländer zu heiraten, wofür sie jedoch den Auszug aus dem Wiener Geburtsregister benötigte – und darauf wartete man meist bis zu einem Jahr.
Ein Onkel in Wien half, ging aufs Magistrat und traf dort eine Wiener Beamtin, die schon einmal in den Niederlanden war und schöne Erinnerungen behielt. Deshalb beschleunigte sie den Vorgang und Miep hielt sehr bald das benötigte Dokument in Händen. Am 16. Juli 1941 heirateten Miep und Jan Gies. Miep war nun Niederländerin.
Das Versteck an der Prinsengracht
Einige Monate später musste sie erneut „Ja“ sagen. Otto Frank erzählte ihr von seinen Plänen, sich mit anderen befreundeten Personen vor den Nationalsozialisten im Hinterhaus seines Hauses an der Prinsengracht verstecken zu wollen. Miep und Jan versprachen zu helfen und den untergetauchten Personen mit Lebensmittel und Zeitungen zu versorgen. Nicht nur das: Jan und Miep versteckten ab 1943 wiederum auch in ihrem Haus einen untergetauchten niederländischen Studenten, der sich weigerte eine Deutsche Loyalitätserklärung zu unterschrieben.
1942 versteckten sich die Famile Frank (Otto, seine Frau Edith sowie die Töchter Margot und Annelies Marie – kurz Anne) mit der Familie Pels (in Anne Franks Tagebuch Familie van Daan genannt) und Fritz Pfeffer (im Tagebuch Albert Dussel genannt) im Hinterhaus an der Prinsengracht 263.
Jan und Miep Gies (im Tagebuch Anne Franks Henk und Anne van Santen genannt) werden zwei der fünf HelferInnen der untergetauchten Menschen. Der Gewürzzweig der Firma wurde mittlerweile in Gies & Co. umbenannt und offiziell wurde Jan Gies Geschäftsführer. Allerdings regelte Otto Frank die Firmengeschicke nach wie vor aus seinem Versteck. Miep Gies betrat jeden Tag als erste das Büro und besuchte die Untergetauchten mit Lebensmitteln und Büchern aus der Bibliothek und holte die Einkaufsliste für den nächsten Tag ab. Jan Gies, der für die Gemeinde Amsterdam arbeitete und Verbindungen zur Widerstandsbewegung hatte, organisierte Wertmarken für die Untergetauchten. Im Laufe des Krieges wurde das Organisieren von Lebensmittel immer schwieriger. Miep Gies musste (mit dem in ihrem Haus versteckten Studenten) für elf Menschen einkaufen.
Am 4. August 1944 saß Miep Gies mit ihren (ebenfalls Familie Frank helfenden) KollegInnen Bep und Johannes Kleiman im Büro an der Prinsengracht, als plötzlich ein bewaffneter Mann in der Tür stand, und seine Pistole auf sie richtete. Jemand hatte die versteckten Menschen im Hinterhaus verraten. Miep Gies sollte ebenfalls verhaftet werden, hatte aber Glück. Der Leiter der Operation war SS Oberscharführer Karl Silberbauer, wie Miep Gies ein gebürtiger Wiener. „Aus persönlicher Symphatie“ entgeht Miep einer Verhaftung.
Die Familie Frank wird in verschiedenen Konzentrationslagern verschleppt. Nur Otto Frank sollte zurückkehren.
Befreiung und nach dem Krieg
Nach der Befreiung der Niederlande und dem Ende des NS-Regimes kehrte nur Otto Frank zurück. Nach seiner Rückkehr lebte er bei Jan und Miep Gies. Er vertraute sie am meisten und ging mit Miep täglich in seine Firma. Als Otto Frank vom Tod seiner Töchter hörte, griff Miep Gies in ihre Schublade und überreichte Otto Frank die von ihr geretteten Tagebücher von Anne Frank mit den Worten „Das ist das Erbe ihrer Tochter Anne“. Sie hatte niemals eine Zeile darin gelesen. Otto Frank übersetzte Teile des Tagebuchs selbst ins Deutsche. Sonntags traf er sich gerne mit jüdischen Freunden aus Amsterdam, die ebenfalls viele Angehörige verloren hatten.
1947 überredete ihn ein Freund, ihm einige Zeilen von Annes Tagebuch zu lesen zu geben. Auch ein Journalist der Zeitung Het Parool, Jan Romein, kannte Fragmente und schrieb darüber einen Beitrag. Otto Frank wurde schließlich überredet, die von Miep Gies geretteten Tagebücher zu veröffentlichen. Das geschah 1947. Miep Gies wollte das Tagebuch „Het Achterhuis“ lange nicht lesen, aber als die zweite Ausgabe erschien las sie das Buch in einem durch. Otto Frank verbrachte mittlerweile seine Arbeit nur noch mit dem Erbe seiner Tochter. Miep Gies kündigte 1947. 1948 wurde nicht nur Juliana neue Königin der Niederlande, sondern Jan Gies gewann eine Summe im Lotto. Mit diesem Geld reisten sie in die Schweiz und besuchten mit Otto Frank auch seine Mutter in Basel. 1949 wurde Miep Gies Mutter und gebar Paul Gies.
Nachdem er sieben Jahre bei Jan und Miep Gies wohnte, ging Otto Frank 1953 nach Basel, wo seine Mutter lebte. Er blieb bis zu seinem Tod 1980 in Kontakt mit der Familie Gies.
1993 starb Jan Gies. Bald darauf übersiedelte Miep Gies in eine kleine Stadt, wo sie bis heute – 100-jährig – bei guter Gesundheit lebt. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen in den Niederlanden, in Deutschland und in Israel die Yad Vashem-Auszeichnung. Aus ihrer Geburtsstadt Wien erhielt sie jedoch noch keine Auszeichnungen. Seit dem Tod ihres Mannes tritt Miep Gies nicht mehr öffentlich auf, verbreitet die Geschichte von Anne Frank aber nach wie vor auf der von ihr autorisierten Website www.miepgies.nl.
Foto: Miep Gies im Alter von 99 Jahren, Oktober 2008, Copyright: Anne Frank-Stiftung
Biografie wurde von mir aus den Materialien auf der Website von Miep Gies und aus ihrem Buch „Mein Leben mit Anne Frank“ erstellt.