Gastkommentar Thomas Schmidinger: Islam und der gesellschaftlichen Kontext von Religion.

Vorwort:

Als in der Öffentlichkeit stehender und international denkender und handelnder offen schwuler Mann, für den Menschenrechte zudem unteilbar sind, stellt sich mir – wie vielen Anderen auch – immer wieder die Frage, wie religionskritisch ich argumentieren und agieren kann und soll, wie sehr ich mich auf eine Religion konzentrieren kann und soll, und welche Konsequenzen es hat wenn ich eine Religion in den Vordergrund stelle ohne die Anderen zu erwähnen. Immer heikel!

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrifft dies vor allem den Islam, da er nunmal im Mittelpunkt öffentlicher Debatten steht. Wie kann man Islamkritik formulieren – etwa dass zur Zeit alle Länder dieser Erde mit Todesstrafen für Homosexualität islamische Länder sind – ohne dass ich „den Islam“ (den es ja eigentlich als Einheit gar nicht gibt) und seine Gläubigen in einen Topf werfe? Oder gar extremistische, diskriminierende oder hetzerische Propaganda damit argumentativ unterstütze? Immer schwierig!

Thomas Schmidinger schrieb unten stehenden Text zu dieser Fragestellung, der bislang unveröffentlicht blieb. Man mag vielen Argumenten zustimmen; manchen – ja vielleicht auch vielen – nicht. Aber angesichts der auch von mir so erlebten festgefahrenen Debatten, die kaum noch Bewegung oder Neupositionierung ermöglichen, halte ich den Text für einen wichtigen Impuls und man soll – ja muss – gerade in der Linken darüber diskutieren. Deshalb habe ich Thomas Schmidinger angeboten, den Text auch hier zu veröffentlichen. Es mag vielen – auch Menschen, mit denen ich gerne und intensiv zusammen arbeite und weiter zusammenarbeiten will – aufstoßen, dass hier Kritik geäußert wird. Mir geht es aber nicht darum, dass Denkschulen gegeneinander losgelassen werden, sondern um die Debatte. Denn als schwuler, politischer und global denkender Mann ist diese Fragestellung essenziell.

Anm.: Man entschuldige, dass die Formatierung der Fußnoten leider nicht WordPress-kompatibel ist. Ich arbeite daran, sobald ich die Zeit dafür finde.
Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter, Lektor an der Universität Wien und der Fachhochschule Vorarlberg und Vorstandsmitglied der im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisation LeEZA. Derzeit befindet er sich gerade auf einem Forschungsaufenthalt in Kairo.
 

Islam und der gesellschaftlichen Kontext von Religion

Nicht erst durch die Sarrazin-Debatte wird in Deutschland, aber auch in Österreich und anderen Staaten Mitteleuropas, verstärkt über ‚den Islam‘ diskutiert. Die Fronten gehen dabei quer durch die politischen Lager. In Sachen Islam werden derzeit alle möglichen Leute durch die Lektüre einiger Artikel und vielleicht sogar einiger ausgewählter Bücher zum „Experten“. Sachkenntnis ist dafür nicht unbedingt notwendig.

Sowohl von GegnerInnen als auch von ApologetInnen des Islam wird dabei ein weitgehend homogenisierendes und essentialistisches Bild des Islam und der Muslime gezeichnet. Es fehlt dabei weitgehend an historischer und gesellschaftlicher Kontextualisierung. Dies ermöglicht es auch so genannten ‚Islamkritikern‘ ein ‚singeling out‘ gegenüber dem Islam zu betreiben und dem Islam bzw. den Muslimen Dinge vorzuwerfen, die de facto die gesamte abrahamitische Religion in ihren unterschiedlichen Ausformungen betreffen. Wer also versuchen will, sich mit dem Islam rational und kritisch auseinanderzusetzen, muss diese Religion im Kontext ihrer Gesellschaft und anderer Religionen betrachten.

Wie andere Religionen auch, ist der Islam zu einer Zeit entstanden in der es keine Trennung von Gesellschaft, Politik und Religion gab. Diese Trennung ist eine späte Entwicklung der Moderne im Kontext der Entstehung moderner Staatlichkeit und des Kapitalismus als ökonomisches System. Weder die Stammesgesellschaften, die irgendwann zwischen dem ersten Jahrtausend vor Christi und dem so genannten Babylonischen Exil das Judentum als Religion entwickelten, noch das Königreich des Herodes und seiner herodianischen Dynastie im Kontext der römisch-jüdisch-hellenistische Welt des Nahen Ostens, die das Christentum hervorbrachte, noch die arabischen Stammesgesellschaften des 7. Jahrhunderts nach Christi, kannten einen modernen Staat und damit eine Trennung der Sphären von Religion, Gesellschaft und Politik. Damit entstammen sowohl das Judentum als auch das Christentum und der Islam einer nichtsäkularen Welt, die die relative Autonomie des Politischen nicht kannte.

Für marxistische Staatstheoretiker wie Nicos Poulantzas bildet die relative Autonomie des Politischen und Ökonomischen ein zentrales Merkmals des modernen Staates. In seiner ‚Staatstheorie‘ formuliert er:

„Die Besonderheit des modernen Staates beruht […] auf der relativen Trennung des Politischen vom Ökonomischen und auf einer Neuorganisation ihrer Räume und Felder ausgehend von der vollständigen Besitzlosigkeit des unmittelbaren Produzenten in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen.“ [1]

Diese relative Autonomie des Politischen im modernen Staat ermöglichte jedoch auch erst die Trennung des Politischen vom Religiösen. Religionen die vor der Entstehung des modernen Staates entstanden sind – und dies gilt mit Ausnahme religiöser Neuschöpfungen der letzten zweihundert Jahre für alle derzeit existierenden Weltreligionen – entstanden damit in einer Gesellschaft, die diese Trennung nicht kannte. Sie waren deshalb notwendigerweise per se nicht säkular, sondern Teil eines allgemeinen Welterklärungssystems, das sich nicht von den später relativ autonom gewordenen Sphären der Politik, der Wissenschaft, des Rechts und der Ökonomie trennen lässt.

Damit ist es wenig erstaunlich, dass alle im vormodernen Kontext entstandenen Religionen sowohl in ihren heiligen Schriften als auch in ihren anderen religiösen Traditionen, sich nicht nur mit Vorstellungen der Transzendenz beschäftigen, sondern auch mit dem Diesseits. In allen heiligen Schriften dieser Religionen finden sich ethische Vorstellungen, Rechtsvorschriften und politische Überlegungen. Und in allen heiligen Schriften dieser Religionen geben diese den Stand dessen wieder was in den jeweiligen Entstehungskontexten dieser heiligen Schriften als richtig betrachtet wurde. Dass diese aus heutiger Sicht gelinde gesagt archaisch anmuten ist eine Selbstverständlichkeit.

 

Rechtsauffassungen abrahamitischer Religionen und Gesellschaft

Gerade die abrahamitischen Religionen[2] Samaritanertum, Judentum, Christentum und Islam unterscheiden sich dabei wenig in den Rechtsvorstellungen, die in ihren heiligen Büchern wiedergegeben werden. Es würde den Rahmen dieses Artikels, sowie meine Kompetenz als Nichttheologe sprengen, eine Analyse dieser Bibelstellen bieten zu wollen. Hier sollen einige Hinweise auf Rechtsvorstellungen in der Bibel genügen um auf die Ähnlichkeit mit im Koran aufzufindenden Vorschriften hinzuweisen.

Mehrmals finden sich in der Bibel zum Beispiel eindeutige Aufforderungen zur Steinigung als Form der Todesstrafe. So befiehlt etwa der Herr Moses im Buch Levitikus einen Gotteslästerer aus dem Lager hinauszuführen und zu steinigen. Schließlich wird folgende Regelung formuliert:

„Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht.“ (Lev, 24,16)[3]

Im Buch Deuteronomium wird die Steinigung für außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau verlangt:

„Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrien hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.“ (Dtn 22, 23-24)

Die Steinigung ist auch für Personen vorgesehen in denen ein „Toten- oder ein Wahrsagegeist ist“:

„Man soll sie steinigen, ihr Blut soll auf sie kommen.“ (Lev 20, 27)

Ähnliches gilt auch beim Ehebruch:

„Wenn ein Mann dabei ertappt wird, wie er bei einer verheirateten Frau liegt, dann sollen beide sterben, der Mann, der bei der Frau gelegen hat, und die Frau. Du sollst das Böse aus Israel wegschaffen.“ (Dtn 22, 22)

Ohne auf die genaue Form der Todesstrafe einzugehen, wird für männliche Homosexualität explizit die Todesstrafe verlangt:

„Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.“ (Lev 20, 13)

Ähnliches gilt für Sex mit Tieren (Lev 20, 15-16) und heiratet einer Mutter und Tochter, gilt dies als Blutschande:

„Ihn und die beiden Frauen soll man verbrennen, damit es keine Blutschande unter euch gibt.“ (Lev 20, 14)

Und selbst bei Geschlechtsverkehr während der Regel der Frau „sollen beide aus ihrem Volk ausgemerzt werden.“ (Lev 20, 18)

Hier soll allerdings keine Bibelexegese betrieben werden. Angesichts der Art wie manche so genannte „IslamkritikerInnen“ aus dem Kontext gerissene Zitate aus dem Koran benutzen um zu versuchen den Islam als etwas ganz anders als das Christen- und Judentum darzustellen, müssten diese Zitate als Hinweis dafür ausreichen, dass sich in der Bibel ganz ähnliche Rechtsvorstellungen finden, wie im Koran. Dies ist auch wenig verwunderlich, schließlich sind beide in einem ähnlichen gesellschaftlichen Kontext entstanden, nämlich in einer nahöstlichen patriarchalen Stammesgesellschaft, die weder durch einen modernen Staat, noch durch eine zentralisierte politische Macht geprägt war, sondern durch Deszendenzgruppen, die miteinander interagieren mussten. Die Rechtsanschauungen des Korans und der Bibel entsprechen dem Gewohnheitsrecht dieser Stammesgesellschaften und dem Versucht dieses in schriftlicher Form niederzulegen und durch den Hinweis auf ihre göttliche Herkunft zu legitimieren. Solche Rechtsformen funktionierten Mangels eines Gewaltmonopols immer auf dem Prinzip der gegenseitigen (Blut-)Rache bzw. der Furcht vor dieser, sowie ihrer Vermeidung durch unterschiedliche Formen der Aussöhnung zwischen betroffenen Deszendenzgruppen. Als patriarchale Gesellschaften spielte dabei die Kontrolle der weiblichen Reproduktionskraft und damit der weiblichen Sexualität eine zentrale Rolle. Schließlich konnte nur so die Vererbung von an die patrilineare Abstammung geknüpften Zugehörigkeiten und Rechten gesichert werden. Das Rache-Prinzip und die Kontrolle der weiblichen Sexualität sind nicht nur zentral in den Rechtsvorstellungen von Bibel und Koran, sondern finden sich auch weit in vorchristliche Zeiten zurückreichende Formen des Gewohnheitsrechts von Stammesgesellschaften, etwas im Norden Albaniens oder im Kaukasus. Für Gesellschaften ohne eine zentralisierte Herrschaft und Gewaltmonopol, sowie patrilinearer Deszendenz waren solche uns heute archaisch anmutenden Rechtsformen schlicht funktional. Wären sie dies nicht gewesen, hätten sie sich auch nicht durchgesetzt und über einen so langen Zeitraum erhalten.

Materialistische Religionskritik ist immer davon ausgegangen, dass Religion ein Produkt der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Marx formuliert die in seinen Thesen über Feuerbach so, dass auch das einzelne „‘religiöse Gemüth‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist“ (7. These).[4] Religion schafft und formt also nicht eine Gesellschaft, sondern wird von dieser geformt.

Insofern ist es auch nicht erstaunlich, dass sich im christlichen neuen Testament eine partielle, aber keine substantielle Verschiebung der Rechtstraditionen der jüdischen Stammesgesellschaft ergibt. Entgegen späterer christlicher Interpretationen, gibt es im neuen Testament keine Aufhebung der jüdischen Gesetze und Jesus vermeidet nach den Erzählungen der Evangelien mehrmals mit der jüdischen Rechtstradition in Konflikt zu kommen. So wendet er sich etwa nicht gegen die Strafe der Steinigung für Ehebrecherinnen. Als im eine Frau vorgeführt wird, die auf frischer Tat beim Ehebruchs ertappt worden war und er gefragt wird ob sie zu steinigen wäre, antwortet er nur:

„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!” (Joh 8, 7)

Mittlerweile Teil eines zentralisierten Weltreiches, transformiert das Christentum die jüdische Stammesreligion zu einer Staatsreligion. Am deutlichsten sichtbar wird dies bei Paulus, der in vielfacher Hinsicht als wirklicher Begründer des römischen Christentums gesehen werden muss und als Verfechter des Heidenchristentums gegenüber dem Judenchristentum maßgeblich für die Ablösung des Christentums vom Judentum verantwortlich war. Paulus ordnet das Christentum der Ordnung des römischen Reiches unter und ermöglicht damit auch die Unterordnung unter das Recht des Kaisers, indem er dessen Ordnung für göttlich erklärt:

„Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.“ (Röm 13, 1)

Das Christentum wird dadurch nicht etwa gewaltlos, wie dies von vielen gegenwärtigen ApologetInnen eines Kuschelchristentums behauptet wird, es nimmt nur zur Kenntnis, dass sich die Gesellschaft gewandelt hat, dass es nicht mehr in einer Stammesgesellschaft existiert, sondern in einem zentralisierten Reich, das die Gewalt zunehmend monopolisiert. Paulus propagiert deshalb nicht die Selbstjustiz einer Stammesgesellschaft, sondern die Unterordnung unter das Schwert des Kaisers:

„Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest. Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, dass du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.“ (Röm 13,4-5)

 

Veränderung und Diversität

Allerdings sind selbstverständlich auch einmal entstandene Weltreligionen nicht statisch. Nicht nur das Christentum setzte einen Bruch gegenüber den Gesetzen der Bibel. Selbst in Römischer Zeit wurden viele Gesetze der Bibel nicht mehr exekutiert und es käme heute selbst extrem fundamentalistischen Gruppen des Judentums nicht in den Sinn wieder mit der Steinigung von EhebrecherInnen zu beginnen. Genau so hat sich allerdings auch der real existierende Islam verändert. Wenn heute so genannte „IslamkritikerInnen“ den Koran als Beleg für eine besonders totalitäre Ausrichtung des Islams heranziehen, müssten sie mit derselben Methode an die Bibel und andere heilige Schriften herantreten. Aus heutiger Sicht wären damit alle diese Religionen völlig anachronistische Wahngebilde.

Der Islam hat in seiner über 1400 Jahre langen Geschichte ähnliche Wandlungen erfahren wie das Judentum und Christentum auch. Islamische Gesellschaften waren nicht nur von Auseinandersetzungen um Rechtsinterpretationen und theologischen Streitigkeiten, sondern auch von Klassen- und Machtkämpfen durchzogen. Im Laufe der Geschichte entwickelten sich ebenso viele islamische Sekten, Schulen und Strömungen wie im Christentum. So bildete der Islam schon nach dem Tod seines Propheten Muhammads keine Einheit mehr. Mit der Abspaltung der Kharajiiten, mit der Trennung von Schiiten und Sunniten, mit der Entwicklung der verschiedenen schiitischen Sekten in Zwölfer-, Siebener- und Fünfer-Schiiten, der weiteren Aufsplitterung der Siebener-Schiiten in verschiedenen ismailitische Sekten, der Entwicklung der sunnitischen Rechtsschulen und der Herausbildung unterschiedlicher Heterodoxien von den Alewiten und Alawiten bis zu den Druzen oder den Bahai, sind die unterschiedlichsten religiösen Strömungen aus dem Islam hervorgegangen und auch innerhalb dieser verschiedenen Strömungen haben wir es heute mit sehr unterschiedlichen religiösen und politischen Positionen zu tun.

Die Konfliktlinien innerhalb der verschiedenen islamischen Sekten und Strömungen verlaufen dabei nicht nur entlang der Frage ob und wie stark jemand „religiös“ wäre, sondern auch wie man den Koran und die jeweiligen islamischen Traditionen interpretiert.

Während die sunnitische Hizb ut-Tahrir bis heute davon ausgeht, dass das Khalifat die einzig legitime politische Form für das Zusammenleben der Muslime darstellt, vertreten andere Strömungen des Politischen Islam, wie die Muslim-Bruderschaft, das Konzept einer etwas diffusen ‚Islamischen Republik‘. Wiederum andere, wie der 1985 hingerichtete Sudanesische Gelehrte Mahmud Muhammad Taha versuchten das islamische Recht, die Scharia, zu einer zeitgebundenen Ausformung des Islam zu erklären und den Islam auf einen demokratischen und sozialistischen ethischen Kern zurückzuführen.[5] Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts argumentierte der ägyptische Ali Abd ar-Rāziq aus einer religiösen Perspektive für die Freiheit der Muslime ihr politisches System frei zu wählen. In seinem Hauptwerk, ‚Der Islam und die Grundlagen der Regierung‘ argumentiert er:

„In Wahrheit hat die islamische Religion mit jener Art des Kalifats, die die Muslime üblicherweise kennen, nichts zu tun. Sie hat auch nichts damit zu tun, was die Muslime dem Kalifat in Bezug auf Wünsche und Ehrfurcht, Ehre und Macht zugeschrieben haben. Das Kalifat hat auch nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun. Gleiches gilt für das Gerichtswesen, für Regierungsposten oder Stellen im Staatsdienst. Das alles sind rein politische Angelegenheiten, mit denen die Religion nichts zu tun hat, denn sie hat sie weder gekannt noch abgelehnt, weder vorgeschrieben noch verboten. Die Religion hat sie uns überlassen, damit wir uns dabei auf die Gebote der Vernunft, die Erfahrungen anderer Nationen und die Regeln der Politik stützen können.“[6]

Während in vielen islamischen Staaten auf Homosexualität schwere Strafen – bis hin zur Todesstrafe – stehen, predigen offen homosexuelle Imame, wie der Südafrikaner Muhsin Hendricks, dass Homosexualität im Islam nicht verboten wäre[7] und organisieren sich britische schwule und lesbische Muslime um religiös legitimierte Eheverträge für lesbische und schwule Muslime abzuschließen.[8]

Während viele islamische Gelehrte Abtreibung grundsätzlich ablehnen, halten auch manche konservative Geistliche, wie der 2010 verstorbene schiitische Großayatollah Muhammad Husain Fadlallah auch Rechtsmeinungen für legitim, wonach eine Beseelung des Embryos erst am 120. Tag der Schwangerschaft erfolgt und eine Abtreibung bis dahin somit keine Tötung menschlichen Lebens darstellen würde.[9]

All dies sind nur Beispiele für die unterschiedlichen Positionen die Menschen, die sich alle als gläubige Muslime verstehen, aus dem Koran und den islamischen Traditionen ableiten.  Ähnliche Dispute innerhalb des Islam gibt es genauso in Fragen der (Un-)Gleichheit der Geschlechter, moderner Biotechnologien, des Verhältnisses gegenüber Christen, Juden und anderen Religionen, den Umgang mit ApostatInnen und eine Menge anderer Fragen. Die Unterschiede zwischen Muslimen sind damit in fast allen Fragen größer als zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Was Muslime eint ist der Minimalkonsens des islamischen Glaubensbekenntnisses, nämlich, daran zu glauben, dass es keinen Gott außer Gott gibt und Muhammad der Gesandte Gottes ist. In allen anderen Fragen gibt es einen mehr oder weniger großen Pluralismus an Meinungen innerhalb des Islam. Muslime vertreten allerdings nicht nur verschiedene Meinungen, sie leben diese auch unterschiedlich. Der gelebte Islam zwischen Albanien, Saudia-Arabien, Indonesien, Senegal, Tatarstan, Darfur, Detroit, Usbekistan, Marokko, Afghanistan, Sansibar, Durban oder Kreuzberg unterscheidet sich ebenso, wie zwischen den türkischen Oberschichten, den ländlichen Regionen oder der urbanen ArbeiterInnenklasse Istanbuls. Und dabei geht es nicht nur darum wie stark ausgeprägt Religiösität ist, sondern auch darum was jeweils als islamisch oder unislamisch verstanden wird.

Deshalb ist es auch genauso sinnlos eine verbindliche Essenz des wahren Islam zu suchen, wie es sinnlos wäre eine solche des Judentums oder Christentums suchen zu wollen. Muslime sind so unterschiedlich und interpretieren ihre Religion so unterschiedlich wie andere Menschen auch. Gegenwärtige politische und gesellschaftliche Verwerfungen in islamisch dominierten Staaten und Gesellschaften haben deshalb nichts mit dem Islam als Religion, sondern mit den Gesellschaften und politischen Systemen, sowie den Ökonomien dieser Regionen zu tun. Diese prägen die jeweiligen Ausformungen und Interpretationen des Islam und nicht umgekehrt.

 

Koran und Bibel

Intelligentere „IslamkritikerInnen“, die sich bewusst sind, dass es nicht genügt selektive Koranexegese zu betreiben, da man dieser ja mit entsprechenden Bibelzitaten kontern könnte, führen immer öfter ins Feld, der Koran hätte einen völlig anderen Charakter als die Bibel, da er ja als Ganzes als direkt von Gott  gesandt betrachtet werde und deshalb nicht hinterfragbar wäre. Es stimmt zwar, dass der Wortlaut des Koran für die Mehrheit der Muslime als direkt von Gott gesandt interpretiert wird. Allerdings bedeutet das nicht, dass der Koran aus deren Sicht keiner Interpretation bedürfe. Über die gesamte islamische Geschichte hinweg gab und gibt es Auseinandersetzungen über die Interpretation des Koran. Die Glaubensüberzeugung, dass der Koran von Gott stammen würde, bedeutet nicht, dass die Muslime auch genau wissen würden was der Koran jeweils bedeuten würde, sondern nur, dass er als Ganzes absolut relevant ist. Auch für klassische und konservative islamische Religionsgelehrte gibt es aber jede Menge so genannter dunkler Stellen des Koran, deren Bedeutung unklar ist. Auch konservative Muslime sind sich über Widersprüche innerhalb des Koran im klaren. Auch die klassische islamische Rechtswissenschaft war sich immer dieser Widersprüche bewusst, weshalb sie das Verfahren der Abrogation (arabisch: nasğ, نسخ) entwickelten. Nach diesem Verfahren werden frühere Koranverse im Falle des Widerspruchs durch spätere aufgehoben. Dabei war es jedoch nicht nur vielfach umstritten welche Verse früher oder später waren und welche Verse damit welche Verse aufhoben, sondern auch das Verfahren selbst war niemals unumstritten. KritikerInnen konnten sich dabei auf Sure 18, 27, in der es heißt, dass keine seiner [Gottes] Worte verändert werden dürften. Als Rechtfertigung für die Abrogation wurde hingegen Sure 2, 106 herangezogen in dem es heißt:

„Was wir auch an Versen aufheben oder in Vergessenheit bringen, Wir bringen bessere oder gleiche dafür. Weißt du nicht, dass Allah über alle Dinge Macht hat?“ (2, 106)

Es würde für diesen Artikel zu weit führen diese Debatte nachzeichnen zu wollen. Hier soll dies als Hinweis dafür genügen, dass auch jene überwiegende Mehrheit der Muslime, die im Koran ein in Wortlaut herab gesandtes Wort Gottes sehen, sich immer uneins waren wie dieses zu verstehen ist. Auch als göttliche Wortoffenbarung ist der Koran deshalb immer auch als offener Text verstanden worden, der der Interpretation bedarf.

Dies hat DogmatikerInnen aller Art natürlich nicht davon abgehalten, zu behaupten diese Interpretation genau zu kennen. Solche ‚Bibelgläubige‘ sind allerdings auch im Christentum zu finden. Dogmatismus liegt deshalb dem Koran als Text nicht mehr inne als anderen heiligen Büchern anderer Religionen. Es gab nie eine verbindliche einheitliche Interpretation des Koran, sondern immer nur unterschiedliche Interpretationen, dogmatischer und – sagen wir einmal – flexiblere.

 

Religions- oder „Islamkritik“?

Dies spricht nicht gegen Religionskritik. Religionskritik als wissenschaftlich fundierte kritische Auseinandersetzung mit Religion ist aufklärerisch. Eine solche Religionskritik kann sich jedoch nicht darin beschränken, sich seine eigenen Strohpuppen zu errichten, um dann die Karikaturen von Religion bekämpfen zu können, sondern muss Entstehungskontext, Diversität und Veränderung, sowie die Funktion von Religionen für Gesellschaften kritisch beleuchten. Vor allem muss eine solche Religionskritik jedoch rational und (selbst-)kritisch bleiben und darf sich nicht auf eine einzige bestimmte Religion beschränken.

Was derzeit im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff der „Islamkritik“ läuft, sei es „Islamkritik“ aus der extremen Rechten oder aus dem so genannten antideutschen Lager, ist keine Religionskritik, sondern das ressentimentgeladene Wiederkäuen von Stereotypen, die sich Halbgebildete durch die Lektüre einiger Texte oder eine selektive und unqualifizierte Koranexegese angelesen haben.

Selbstverständlich finden sich auch innerhalb des politischen Spektrums, das sich in Deutschland und Österreich als ‚antideutsch‘ bezeichnet unterschiedliche Positionen in der Frage der Einschätzung des Islam. Allerdings handelt es sich dabei meist eher um Nuancen und nicht um grundsätzliche Unterschiede. Zwar distanzieren sich manche Strömungen von der offen gegen Muslime gerichteten Hatespeech einer ‚Bahamas‘ oder einer ‚Prodomo‘, allerdings finden sich in abgeschwächter Form ähnliche Argumentationsmuster auch in anderen Zeitschriften, die in der so genannten antideutschen Szene gelesen werden.

Zwar grenzt sich diese ‚Islamkritik‘ verbal von einer ‚Islamkritik‘ von rechts ab nur um dann eine bessere, angeblich nicht rassistische ‚Islamkritik von Links‘ einzufordern. Wenn Stephan Grigat von der Gruppe „Café Critique“ und „Stop the Bomb“ kritisiert, dass die „etablierte Linke“ die „Kritik des Islam den Fremdenhassern von rechts“[10] überlasse, kann dies wohl nur als Aufforderung zu einer ‚besseren‘ weil linken ‚Islamkritik‘ gelesen werden. Dabei geht es also nicht mehr um Religionskritik, denn Grigat arbeitet schließlich mit seinen beiden Organisationen auch eng mit der Israelitischen Kultusgemeinde zusammen, hat also kein Problem mit Religion an sich, sondern eben mit einer bestimmten Religion. Diese bestimmte Religion soll als besonders reaktionär, regressiv, antisemitisch und totalitär dargestellt werden. Entsprechend argumentierte „Café Critique“ 2008 in der Bahamas gegen die vermeintliche ‚Islamkritik‘ der FPÖ, der sie die eigene ‚Islamkritik‘ gegenüberstellte. Dabei wurden v.a. jene kritisiert, die den Rassismus der FPÖ kritisieren und angeblich nicht Wissens wären „die Bedrohung durch die islamische Erweckungsbewegung auch nur ins Auge zu fassen, sondern vielmehr jede Kritik an deren regressiver und vernichtungswütiger Zwangsmoral als Islamophobie“[11] zu denunzieren.

 

In der linken Wochenzeitung Jungle World[12] hatte Thomas Maul in einem Vorabdruck seines Buches „Sex, Jihad und Despotie“ im Mai 2010, behauptet, dass der Islam die Dämonisierung des weiblichen Geschlechts „nicht mehr nur – wie noch im Christentum – auf besondere Frauen“ beziehe, sondern alle umfasse:

 

„Teilen Frauen doch die ihnen im Islam wesenhaft zugeschriebene Charaktereigenschaft, Fitna – Unruhe, Verwirrung, Unordnung – zu stiften, mit dem Leibhaftigen. Entsprechend kann sich der Gläubige vorm drohenden Unheil, das von den Frauen ausgeht, gar nicht genug in acht nehmen.“[13]

 

Als Beleg für diese These führt er nicht einmal einen einzigen islamischen Text an, sondern bezieht sich ausschließlich auf die Thesen des weit rechts stehenden antiislamischen Islamwissenschafters Hans-Peter Raddatz. Raddatz, der ansonsten der „westlichen Elitenpolitik“ vorwirft „eigene Interessen über das Gemeinwohl“ zu stellen und eine „laufende Islamisierung und mit ihr den Verdrängungsdruck auf die europäischen Bevölkerungen, den wir ‚Demophobie‘ (Volksfeindlichkeit) nennen“[14] zu verstärken und von einer Vertreibung der Muslime aus Europa träumt, konnte sich tatsächlich einige Zeit lang auch in ‚linken‘ antideutschen und zionistischen Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreuen. Daran konnten weder latent antisemitische Aussagen von Raddatz selbst etwas ändern, noch die auffälligen Ähnlichkeiten zwischen antisemitischen Verschwörungstheorien und der Vorstellung einer zentral gesteuerten Islamisierung Europas als Teil einer islamischen (Welt-)Verschwörung.

 

Hinter all dieser vermeintlichen ‚Islamkritik‘ steht dasselbe monlithische und essentialistische Bild des Islam als Religion und seiner Gläubigen, den Muslimen, die Widersprüche und Konflikte innerhalb des Islam ausblendet. Die Methoden solcher ‚Islamkritiker‘ mit islamischen Texten umzugehen entspricht jenen, mit denen Antisemiten im 19. Jahrhundert versucht haben mit Versatzstücken der Bibel und des Talmud ein Zerrbild des Judentums zu entwerfen. Diese „Islamkritik“ dient nicht der Aufklärung, sondern dem Schüren von Ängsten und Ressentiments gegenüber einer ohnehin schon in die Enge gedrängten religiösen Minderheit. Sie wird weder dem real existierenden Islam gerecht, noch ist sie bereit sich auch mit anderen Religionen kritisch auseinanderzusetzen. Das dadurch erzeugte Bild des Islam ist nicht aufklärerisch, sondern ist ein hasserfülltes Zerrbild.

 

Wenn „Islamkritik“ zur Tat schreitet

Das Schüren von Ressentiment bleibt selten folgenlos. In einer gesellschaftlichen Atmosphäre in der sich der Hass auf eine spezifische Gruppe ausbreitet, finden sich auf Kurz oder Lang Personen, die von der bloßen Theorie zur Tat schreiten. Mit dem Anschlag in Oslo und dem Massaker auf der nahe gelegenen Ferieninsel Utøya vom 22. Juli wurde Europa mit dem ersten großen terroristischer Anschlag aus der antiislamischen Szene konfrontiert. Auch wenn die Opfer des Anschlags überwiegend säkulare SozialdemokratInnen waren, so sah der Attentäter in diesen v.a. „kulturmarxistische“ Helfer der „Islamisierung Europas“. In einem Manifest des Terroristen in dem er sich auf unterschiedlichste „Islamkritiker“ in Europa bezog, äußerte sich ein Weltbild, das durchaus auch auf einer Reihe so genannter „islamkritischer“ Websites zu finden war und ist. Auch wenn sich viele dieser Websites und der antiislamischen politischen Parteien Europas vom Attentat selbst distanzierten, kann die ideologische Mitverantwortung für die Aufbereitung des politischen Klimas, in dem einzelne zur Tat schreiten, nicht so einfach von sich gewiesen werden. Im Gegensatz zu gihadistischen Anschlägen der letzten Jahre, war die Öffentlichkeit in diesem Fall allerdings rasch bei der Einzeltäterthese angelangt. In den Medien wurde der Attentäter psychologisiert, der ideologische Hintergrund zunehmend ausgeblendet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich nicht nur rechte antiislamische Gruppen mit dem Attentäter schwer tun, sondern auch manch antideutsche Gruppierung Bocksprünge vollzieht um die eigene „Islamkritik“ zu retten. So wird der Terrorist für Cafe Critique zum antisemitischen Attentäter, der eine „Imitation des jihadistischen Antipoden“ darstelle.[15] Für Gerhard Scheit auch das Massaker von  Utøya Anlass über ‚muslimische Rackets‘ zu schwadronieren, auf die der Terrorist doch nur neidig gewesen wäre:

„Und es ist gerade der Neid auf die Gemeinschaft enragierter Muslime und die Schlagkraft und Gewalttätigkeit ihrer Rackets, die den Attentäter von Oslo umtreibt. Der auf Gewalt sinnende Antisemit, der für Israel Partei ergreift, bleibt notwenig ganz isoliert. (So war für ihn auch in der norwegischen „Fortschrittspartei“ schließlich kein Platz mehr.) Also phantasiert er Gemeinschaft und Racket herbei und entwickelt dabei die infantilsten Vorstellungen.“[16]

Bei Cafe Critique hört sich Täter-Opfer-Umkehr schließlich folgendermaßen an: Breivik haben sich „genau in das Monster [verwandelt], das die Antizionisten in Israel verkörpert sehen wollen. Die Jugendlichen der sozialdemokratischen Jugend, die er tötete, übten sich auf ihrer Ferieninsel in antizionistischer Solidarität mit den Palästinensern und der Free Gaza Flotte, und (wie einige wenige Medien berichteten) als der Massenmörder sie jagte, glaubten manche von ihnen noch, es handle sich um eine zur politischen Belehrung inszenierte Vorführung israelischen ‚Staatsterrors‘, und fielen ihm darum umso leichter zum Opfer.“[17]

Abgesehen davon, dass dieses Gerücht, die Jugendlichen hätten geglaubt, dass hier ein israelischer Staatsterror inszeniert wurde, nicht in irgendwelchen Medien verbreitet wurde, sondern sich ausschließlich in rechten antiislamischen Websites wiederfand, werden hier im Zusammenhang mit einem terroristischen Massaker, die Opfer letztlich mitverantwortlich dafür gemacht, dass sie sich zur Zielscheibe des Terrors gemacht haben. Breivik ist in dieser Lesart kein Resultat der jahrelangen Hetze gegen Muslime, sondern eine Imitation des gihadistischen Terroristen, der es noch dazu auf ohnehin antiisraelische Jugendliche abgesehen hatte.

Religionskritik in Zeiten kulturreligiöser Mobilisierung

Solche „Islamkritik“, komme sie von Rechts oder von Links, ist in Zeiten der Mobilisierung von Religion und Kultur für globale Verteilungskämpfe, ein Spiel mit dem Feuer. Sie verschleiert Interessen, ökonomische und politische Konflikte und spielt der kulturreligiösen Mobilisierung gegen Muslime in Europa in die Hände.

Demgegenüber müsste eine Religionskritik, die den Islam genauso einschließt wie das Christentum, das Judentum oder den Hinduismus, Religion in ihrem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext analysieren. Eine solche Religionskritik dürfte sich nicht auf die selektive Exegese heiliger Schriften beschränken, sondern müsste diese Texte in ihrem Entstehungs- und Rezeptionskontext diskutieren und damit auch mit Religion als sozialer Praxis verbinden. Vor allem aber müsste eine solche Religionskritik Religiosität als Feld gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Auseinandersetzungen begreifen und nicht nach einem „Wesen der Religion an sich“ suchen.

Analog zur in der marxistischen Staatstheorie von Nicos Poulantzas formulierten Vorstellung, des Staates als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen, d.h. Klassenverhältnissen“[18] könnte auch institutionalisierte Religion als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft begriffen werden, die sich als Resultat von Verschiebungen dieser Kräfteverhältnisse verändert und immer wieder – ebenso wie der Staat – mit fundamentaler Opposition konfrontiert ist. Solche Religionskritik könnte Pierre Bourdieus Ansatz, Religion im Sinne seiner Feldtheorie als „religiöses Feld“ zu verstehen[19], aufgreifen um damit Kämpfe zwischen unterschiedlichen Formen von Religiosität und ihre Trägern deutlich zu machen.

So verstandener Religionskritik ginge es um Erkenntnis und Kritik von Herrschaftsverhältnissen und nicht um die Stigmatisierung der Angehörigen einer bestimmten Religion.

[1] Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg, 2002, S. 81

[2] Die Ähnlichkeit in den religiösen und rechtlichen Vorstellungen dieser Religionen gehen letztlich so weit, dass sich dabei durchaus auch der Singular verwenden ließe. Wenn wir vom Buddhismus als einer Weltreligion sprechen, könnten wir durchaus auch von der abrahamitischen Religion sprechen, von der Samaritaner, Judentum und Islam nur jeweils spezifische Spielarten bzw. Sekten bilden.

[3] Alle Zitate aus der Bibel entstammen der von der u.a. von der katholischen Kirche verwendeten so genannten Einheitsübersetzung.

[4] MEW 3:7

[5] Vgl. Schmidinger, Thomas: Die zweite Botschaft des Islam. Eine Menschenrechts- und Sozialismuskonzeption aus dem Sudan. Context XXI, Nr. 7-8 / 2000

[6] Ebert, Hans-Georg / Hefny, Assem: Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft. Übersetzung und Kommentar des Werkes von Alî Abd ar-Rāziq. Frankfurt et al., 2010, S. 114f

[7] http://findarticles.com/p/articles/mi_qa5536/is_200607/ai_n21406906/ [23.2.2011]

[8] http://www.bbc.co.uk/news/uk-12486003 [23.2.2011]

[9] Vgl.: Thomas Eich (Hg.): Moderne Medizin und islamische Ethik. Biowissenschaften in der muslimisch en Rechtstradition. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2008

[10] Stephan Grigat: Blutige Praxis, nicht gedankliche Schrulle. Die Presse, 24. Jänner 2010

[11] Café Critique: Islamkritik und Politik im Namen des Volkszorns. Die FPÖ und das postnazistische Österreich. Bahamas Nr. 56, 2008

[12] In Berlin erscheinende linke Wochenzeitung, die sich in den letzten Jahren zunehmend zu einer Zeitung der antideutschen Szene verengt hat. Dieser Text, der ursprünglich von der Zeitschrift Phase 2 angefordert, aber dann aus inhaltlichen Gründen nicht publiziert wurde, hätte danach in der Jungle World erscheinen sollen. Trotz ursprünglicher Zusage der Publikation wurde der Text nach mehrmonatiger Verzögerung dann u.a. deshalb abgelehnt, weil es – wie es in einem Mail des zuständige Redakteurs formuliert wurde – die Redaktion für falsch hielt „die Breivik-Geschichte zum Anlass für eine Generalrevision der Islamkritik zu nehmen. Ich persönlich denke ja eher, dieses Attentat dürfte die Initialzündung dafür gewesen sein, fortan jeden Islamkritiker der Sympathie mit Terroristen zu verdächtigen, und hätte in meinem Ressort lieber einen Text, der sich diesem Problem widmet.“

[13] Thomas Maul: Sexualität und Despotie. Jungle World, Nr. 20, 20. Mai 2010

[14] Hans-Peter Raddatz, Allah und die Juden. Die islamische Renaissance des Antisemitismus, Berlin 2007, S. 10.

[15] Gerhard Scheit: Methode Breivik. Über den Antisemiten der für Israel Partei ergreift: http://www.cafecritique.priv.at/ [20. 9. 2011] S. 4

[16] Ebenda: S. 4

[17] Ebenda: S. 4f

[18] Nicos Poulantzas: Staatstheorie, Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg, 2002: S. 101

[19] Pierre Bourdieu: Genese und Struktur des religiösen Feldes“, in: ders.: Das religiöse Feld: Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz, 2000