Dass der Klimawandel nach wie vor ein brandaktuelles und akutes politisches Thema ist, brauche ich auf einem Blog eines Grünen Politikers wohl nicht näher erläutern. Was aber auffällt: Wir beschäftigen uns vorwiegend – und das durchaus zu Recht – mit der Zukunft. Zukunft ist aber immer etwas Ungewisses, etwas, dass man bestenfalls erahnen kann. Wie sieht es aber mit der Vergangenheit aus? Gibt es Ereignisse, aus denen wir Lehren ziehen können? Ereignisse, die auch Menschen betraf und nicht nur etwa Dinosaurier?
In diesem Sommer hatte ich das einzigartige Erlebnis, ein ganz neues, kleines aber feines Vulkanmuseum zu besuchen, das Eldfjallasafn Volcano Museum in Stykkishólmur. Auf der isländischen Halbinsel Snæfellsnes befindet sich einer der berühmtesten Vulkane der Welt, der Snæfellsjökull. Dieser beeindruckende Berg inspirierte schon viele Menschen, unter anderem Jules Verne, der hier seine Reise zum Mittelpunkt der Erde beginnen ließ. Aus dem kleinen Städtchen Stykkishólmur stammt auch der Vulkanologe Haraldur Sigurðsson, der kleine Objekte und künstlerische Darstellungen von Vulkanen aus seiner Privatsammlung in diesem Museum zeigt und liebevoll interessierte Menschen durch das frühere Kino führt. Es ist sicher kein mit großen Naturhistorischen Tankern und deren Sammlungen vergleichbares Museum, aber ein persönliches Museum mit einer Passion – und einer Botschaft!
Zuerst aber zum Hintergrund: Haraldur Sigurðsson ist international anerkannter Experte und hat zahllose Vulkane erforscht und wurde auch durch sein Buch Melting the Earth bekannt. Seine wohl aufregendste, spannendste und bahnbrechendste Erforschung fand am Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbava, östlich von Java gelegen, statt. Haraldur fand heraus, dass 1815 der größte Vulkanausbruch in historischer Zeit stattfand und dieses Ereignis die darauf folgenden Jahre globale und verheerende Auswirkungen hatte. Er konnte somit vulkanologisch die ersten Ergebnisse des Klimaforschers William Humphreys aus dem Jahr 1920 bestätigen. Nebenbei grub er auch verschüttete Reste einer untergegangenen Kultur auf der Insel aus.
Das Jahr 1816 wurde in Nordamerika umgetauft und eightteenhundred and frozen to death genannt. In Europa wird 1816 das Jahr ohne Sommer genannt. Was war passiert? Der Tambora brach im April 1815 aus. Asche, Staub und Schwefelverbindungen wurden in einem in historischer Zeit noch nie dagewesenen Ausmaß in die Atmosphäre geschleudert. Wie ein Schleier legte sich das Material um den Erdball – mit verheerenden Folgen für die Folgejahre.
Europa erholte sich gerade von den napoleonischen Kriegen und hatte den Kontinent am Wiener Kongress 1814/15 restrukturiert. Als der Sommer 1816 vor der Tür stand hofften die Menschen auf reiche Ernte. Es passierte aber das Gegenteil. Besonders Westeuropa war vom Jahr ohne Sommer betroffen – in Österreich vor allem Vorarlberg. Das Jahr ohne Sommer dauerte lange und hielt im Grunde bis etwa 1819 an.
Die Auswirkungen des Vulkanausbruchs auf der anderen Seite des Globus sind von historischer und kulturhistorischer Bedeutung:
Flüsse traten nach Unwettern immer wieder über die Ufern, insbesondere der Rhein.
In den westlichen Alpen – vor allem in der Schweiz und in Vorarlberg – schneite es auch im Sommer. Die Schneeschmelze fand kaum statt. Mit den erneuten Schneefällen im Sommer kam es immer wieder zu Überschwemmungen.
Missernten waren eine katastrophale Folge der Unwetter und der Kälte.
Die Getreidepreise verdoppelten bis verdreifachten sich.
Hungersnot brach aus.
Tausende Westeuropäer_innen wanderten deshalb in die USA aus.
Reformen in der Landwirtschaft wurden allerortens gemacht, die bis heute Auswirkungen haben. So lässt sich das traditionelle Cannstatter Volksfest in Baden-Württemberg ebenso auf dieses Ereignis zurückführen wie die Errichtung der Universität Hohenheim.
Justus von Liebig forschte aufgrund der Missernten und entwickelte die mineralische Düngung.
Die Erfindung der Draisine (und somit des späteren Fahrrads) geht auf den Vulkanausbruch zurück, da tausende Pferde starben.
Mary Shelley verbrachte ihren Sommer 1816 im Haus von Lord Byron am Genfer See. Das Wetter war so schlecht, dass sie ständig im Haus sitzen mussten. Zum Zeitvertreib schrieben sie Schauergeschichten. Ohne den Vulkanausbruch hätte also Shelleys Frankenstein oder die erste Vampirgeschichte der Welt, Der Vampyr von John Polidori, nicht das Licht der Welt erblickt. Im Gedicht Darkness von Lord Byron wird das Jahr ohne Sommer poetisch beschrieben.
Auch in den USA und Kanada waren die Auswirkungen des Vulkanausbruchs im Jahr zuvor enorm. Nachtfroste im Sommer führten zu Missernten und Hungersnöten. Im August schneite es in Québec 30 cm. Viele Farmersfamilien sahen sich genötigt neues Land zu besiedeln. So verursachte die kleine Insel in Indonesien die Besiedelung von Ohio, Indiana und Illinois.
Zurück zu Haraldur Sigurðsson:
Er durchforstete die Lektüre über die Jahre um 1816 und stellte Erstaunliches fest: Landwirtschaftliche Reformen wurden von Historiker_innen nahezu ausschließlich als Ergebnis von politischen Rahmenbedingungen behandelt; als Konsequenz politischen und menschlichen Handelns. Die Rahmenbedingungen, die seitens des Planeten und der Natur vorgegeben wurden, blieben völlig ausgeklammert. Erfindungen und neue Forschungen, die aus der Not entstanden, wurden nicht auf die Naturkatastrophe zurückgeführt. Auch die Literaturgeschichte erkannte nicht, dass die berühmten Schauergeschichten vom Genfer See ohne den Vulkanausbruch wohl nie geschrieben worden wären.
Das Plädoyer von Stykkishólmur war eindringlich: Die Wissenschaften müssen wesentlich enger zusammen arbeiten und aufeinander achten. Am Ende irritiert aber vor allem dies: Wie weit der Mensch sich bereits von seinem Planeten und der Natur entfremdet hat und glaubt, seine Handlungen, Politik, Erfindungen, Leistungen und Kultur seien vor allem bis auschließlich auf den menschlichen Geist zurückzuführen. Wie groß die Rolle der Natur und die Umwelt dabei spielt, wird vergessen und ausgeklammert.
Mit dem Wissen aber, wie Menschen mit außerordentlichen Naturereignissen und Katastrophen umgegangen sind, lassen sich auch Lehren für die Zukunft ziehen; und natürlich vor allem die Natur wieder stärker in unsere Forschung einbeziehen, denn so kann menschliches Handeln, Tun und Forschen auch die Herausforderungen der Zukunft bewältigen – allem voran den Klimawandel und all seinen damit verknüpften Zweige: Energie, Architektur, Mobilität, Witschaftswissenschaften, Kulturgeschichte, Politik, usw.