Dieses Jahr findet der Eurovision Song Contest 2012 in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, statt. Über die dortigen politischen Verhältnisse wird bereits intensiv diskutiert (siehe etwa diesen Beitrag des deutschen Fernsehens).
Ob und wie Politik – abseits von Punkte an „Freunde“ – eine Rolle spielen soll oder darf, ist schon lange Gegenstand vieler emotional geführter Debatten seit es den ESC gibt. In erster Linie soll es um das Völkerverbindende gehen, sagen immer alle einhellig. Das stimmt ja auch. Was aber, wenn ein Beitrag die Politik selbst zum Thema macht? Es war immer schon Tradition auch Politik zu besingen. Oder was, wenn ein Land ein Lied zur Verherrlichung seines Diktators schickt, so wie Belarus 2012 in Düsseldorf?
Blicken wir einmal in die Geschichte des ESC, und erzählen wir einige von vielen Geschichten!
1956 – Kalter Krieg
Als 1956 der erste Eurovision Song Contest in Lugano über die Bühne ging, war Europa fest im Griff des Kalten Krieges, der den Zweiten Weltkrieg ablöste. Das blieb auch in Osteuropa nicht unbemerkt. Der ESC war dort recht erfolgreich – wenn auch illegal. Eine Gegenveranstaltung musste her! Das geschah dann auch: 1961 ging das Sopot Song Festival erstmals on air. Allerdings nie mit dem selben Erfolg.
Der erste Sieg beim ESC 1956 ging an Lys Assia aus der Schweiz mit Refrain. 2012 wollte es die rüstige Dame noch einmal wissen und trat bei der eidgenössischen Vorausscheidung an, konnte aber nicht siegen.
1968 – Spanien, Franco und 2 Jahre Krise
1968 – so besagen es immer mehr Indizien – erkaufte sich das Spanien Francos den Sieg. Die Vorausscheidung war schon politisch genug! Manuel da la Calva schrieb den Song La la la. Allerdings wurde der Song von Joan Manuel Serrat katalanisch vorgetragen und das gefiel dem Franco-Regime gar nicht, aber Serrat wollte es nicht Spanisch singen, obwohl er eine spanische Aufnahme publizierte. Also musste Massiel das Lied singen. Und zwar Spanisch. Juroren und Jurorinnen wurden gekauft, wie das spanische Fernsehen einmal dokumentierte. Und so gewann dieses Liedchen. Cliff Richard – der Topfavorit 1968 – hatte das Nachsehen und konnte mit Congratulations und einem Punkt Abstand nur den 2. Platz belegen. Somit fand der ESC 1969 in Spanien statt. Österreich und andere Länder boykottierten die Diktatur. Dann gewannen dort auch noch 4 Songs gleichzeitig, was dazu führte, dass 1970 kaum noch ein Land am ESC teilnehmen wollte. Der Bewerb stand 2 Jahre lang an der Kippe.
So hätte 1968 der spanische Beitrag eigentlich vorgetragen werden sollen. Das missfiel allerdings dem Franco-Regime. Also musste Massiel ran. Sie gewann nicht ganz ehrlich, wie man heute weiß.
1974 – Revolution in Portugal beim ESC
Eines der bewegendsten Geschichten handelt über den portugiesischen Beitrag 1974. E depois de adeus wurde zur Hymne der Nelkenrevolution 1974. Portugal litt damals unter dem Diktator Marcello Caetano. Paulo de Carvalhos Beitrag landete zwar nur auf dem 14. Platz, aber sein Song war das Startzeichen der Nelkenrevolution, der friedlichen Bewegung der Streitkräfte (MFA) am 24. April 1974. Es war ausgemacht, dass der Marsch auf Lissabon starten soll, wenn das Lied im Radio gespielt wird. Das geschah an diesem Tag um 23 Uhr. Der Rest ist Geschichte, samt Demokratie, EU-Beitritt etc.
Bewegender Zusammenschnitt von Bildern der Nelkenrevolution 1974 eines YouTube-Users mit dem portugiesischen Eurovisionsbeitrag aus dem selben Jahr, der Eurovisionsgeschichte schrieb. Und das trotz Erfolglosigkeit beim Bewerb selbst.
1974 – Italien hat ein Problem
Im selben Jahr hatte Italien ein Problem. Gigliola Cinquetti, Superstar von Deutschland bis Japan und Siegerin 1964, trat mit dem wunderbaren Song Sì an und landete hinter Schwedens Gruppe Abba und ihrem Waterloo auf dem 2. Platz. Blöderweise fand aber in Italien am nächsten Tag ein Referendum statt, in der ein neues Scheidungsrecht zur Abstimmung stand. Die RAI fand Sì (Ja) daher zu manipulativ, zeigte den ESC erst Wochen später in einer Aufzeichnung. Das Referendum endete trotzdem mit einem „Ja“ zum modernen Scheidungsrecht und mir persönlich brachte diese Geschichte einmal einen 300-Euro-Büchergutschein bei der ORF-Sendung Was gibt es Neues?
Ein Songtitel bereitet der RAI Probleme: Gigliola Cinquetti belegte mit Sì hinter Abba den 2. Platz.
1982 – Friedensbewegung, Anti-Atomwaffen-Bewegung und trotzdem Null Punkte
In den 1980-er Jahren war die Friedensbewegung in einer Hochblüte. Das Aufrüsten im Kalten Krieg trieb europaweit Menschen auf die Straße. Sie demonstrierten gegen Pershings und anderen Raketen. Besonders Finnland litt durch die lange Grenze zu Russland darunter. Also sang 1982 ein gewisser Kojo Nuku pomiin (Atombombe) und klagte das atomare Wettrüsten an. Allerdings belohnten die Juries das keineswegs. Nicoles Friedensappelle kamen besser an als eine rockige Anklage: Null Punkte für Finnland.
Das finnische Anti-Atombomben-Engagement blieb von der Jury unbelohnt: Zero points.
1997 – Schwules Lebensgefühl aus Island
Dass der ESC immer schon besonders bei schwulen Männern beliebt war, galt lange als Fakt des ESCs. Nur offen gezeigt oder ausgesprochen wurde das nicht. Zwar galt bereits das luxemburgische Siegerlied 1961 Nous les amoureux als Schwulensong, nur musste man zwischen den Zeilen hören und fühlen. Mit Paul Oscar aka Páll Óskar Hjálmtýsson aus Island änderte sich das. Sein Beitrag Minn hinsti dans wurde sehr schwul vorgetragen. Und bis heute gilt er in Europa als Schwulenikone. Ein Jahr danach gewann die Transsexuelle Dana International für Israel.
1996 fand die erste Regenbogenparade auf der Wiener Ringstraße statt. Ein jahr später quasi auf der Bühne des Eurovision Song Contest. Da alle Live-Auftritte 1997 auf YouTube fürs Einbetten deaktiviert wurden hier das Video zum Song Minn hinsti dans.
2005 – Die Orange Revolution
Die Dramaturgie war perfekt. 2004 gewann die Ukraine den Eurovision Song Contest in Istanbul. Der Bewerb fand 2005 in Kiew statt und stand ganz unter dem Eindruck der Orangen Revolution. Zum ersten Mal betrat ein Präsident die Bühne und der ukrainische Beitrag war die Revolutionshymne schlechthin.
Die ukrainische Revolutionshymne Razom nas bahato von Greenjolly beim Eurovision Song Contest 2005 in Kiew.
2009 – Georgien, Russland, der Krieg und der ESC
2008 fand der Kaukasuskrieg zwischen Georgien und Russland statt. 2009 wollte Georgien trotzdem beim Eurovision Song Contest auftreten, der pikanterweise in Moskau stattfand. Georgien wählte den Song We Don’t Wanna Put In – ein Affront für Russland. Die EBU beugte sich dem Druck des Putin-Regimes und bat Georgien um einen anderen Song. Die zogen sich darauf für ein Jahr aus dem Wettbewerb zurück.
We don’t wanna put in wurde weder von Russland noch von der EBU falsch verstanden. Das Lied durfte 2009 in Moskau nicht gesungen werden. Georgien pausierte ein Jahr.
2009 – Israel und eine arabische Hälfte.
Israel sorgte mehrmals für politische Fragestellungen rund um den Eurovision Song Contest. 1980 nahm Marokko nur deshalb Teil, weil Israel im Johnny Logan-Jahr pausierte. 1998 sorgte der Sieg der transsexuellen Dana International für heftige Diskussionen in Israel und beeinflusste die lesbisch-schwule Emanzipation in Israel ganz wesentlich. 2005 wollte der Libanon am ESC teilnehmen, wollte aber die Sendung während des israelischen Beitrags ausblenden. Das erlaubte ihnen die EBU jedoch nicht und Libanon musste sein bereits gewähltes Lied wieder zurückziehen. 2009 sang die arabische Sängerin Mira Awad mit Noah There Must Be Another Way. Da Awad den Staat Israel repräsentierte, bekam sie ziemliche Probleme mit radikalen Islamisten rund um die Hamas. Boykottaufrufe wurden laut.
Hebräisch, Arabisch und Englisch in einem Song. Das war der radikalen Hamas zu viel.
Und 2012 in Aserbaidschan?
Wir werden sehen. Vielleicht wird ja Conchita Wurst für politisches Aufsehen sorgen, wenn sie singt, man soll zu sich stehen und dabei nie leise sein. Aber das werden wir heute Abend erst wissen. Oder in den nächsten Wochen.