Wie um Himmels Willen kann man nur Eurovision Song Contest Fan sein?

Vor einigen Jahren saß ich mit Christoph Chorherr im Zug. Irgendwo zwischen Hartberg und Wien fragte er mich plötzlich: „Wie kann man nur Fan des Song Contests sein? Ich verstehe das nicht!“ Ich versprach ihn daraufhin einen Blogbeitrag, aus dem irgendwie nie was wurde. Jetzt, nachdem Österreich sein Comeback feiert, kann ich das endlich nachholen. Denn diese Frage höre ich oft!
Die Frühzeit
 

Der persönliche Bezug begann 1976. Es ist das Jahr, in dem ich – fast schon siebenjährig – Fan wurde. Seitdem habe ich keine Ausgabe verpasst. Meine Eltern übersiedelten mit mir und meiner Schwester Ende 1975 nach Österreich. Und als wir am 3. April 1976 Samstag lange aufbleiben durften wurde der Eurovision Song Contest zum Familienevent. Aufbleiben bis Mitternacht war wie Silvester. Das prägendste war aber: Die Ausgabe 1976 kam aus Den Haag, der Stadt meiner Großeltern und wo ich viel Zeit verbrachte. Und ich konnte die Stadt, die ich so gut kannte, im österreichischen Fernsehen sehen! Und mein neues Land wurde gleich Fünfter. Vielleicht hatte ich mein erstes Europa-Erlebnis. Ich fand das jedenfalls wunderbar. Und als mit der Startnummer 1 gleich die späteren Sieger aus Großbritannien- Brotherhood Of Man mit „Save Your Kisses For Me“ – auftraten, war ich verliebt. In den Song, in den Event, darüber mehr aus den Gastgeber-Länder und -Städte zu erfahren.
Das ist heute noch so. Nur dass ich mittlerweile lieber selbst hinfahre. Aber was lässt mich an diesem Event heute noch so faszinieren?
1. Europas Vielfalt
Kein anderer Event ermöglicht es, sich mit Musik, Sprache und popkulturellem (Trash-) Geschmack europäischer Länder auseinanderzusetzen. Das gibt es einfach bei keinem anderen Bewerb und bei keiner anderen TV-Show. Die Vielfalt Europas wird mit all ihre Höhepunkten und Abgründen hörbar und sichtbar. Welche Sänger_innen und Gruppen wollen für Estland antreten, und was singen die denn dort? Welche Ethnosounds sind gerade in Zypern angesagt? Ohne den ESC hätte ich keinen Grund mich damit zu beschäftigen. Und es macht Spaß!
2. Eine Party für Island und Aserbaidschan
Europa hat so viel und gleichzeitig so wenig gemeinsam. Fußballfeste, Politik, und was noch? Eben. Einmal im Jahr sitzt Europa vor den TV-Schirmen, von Island bis Zypern, von Portugal bis Aserbaidschan und feiert dieselbe Party. Das ist doch nicht nichts. (Übrigens: Australien und Neuseeland feiern immer mit. Der ESC ist dort ungemein populär!
3. Musikstrategien
Die verschiedenen Absichten und Strategien der teilnehmenden Länder ist auch immer spannend zu beobachten. Als Beispiel sei die serbische Siegerin 2007 erwähnt: Marija Šerifović hatte mit ihrem Beitrag „Molitva“ gar nicht die Absicht eine internationale Karriere zu machen. Sie wollte sich einen Namen am Balkan schaffen und dort Star-Status ersingen. Westeuropäische Länder haben im vorigen Jahrzehnt gerne negativ und höhnend über Osteuropa und „politisches Block-Voting“ berichtet. Dabei machten die etwas sehr Interessantes: Sie förderten heimische Künstler und Künstlerinnen, um ihnen eine Karriere in einer Region (z.B. dem Balkan) zu ermöglichen. Schlecht? Immerhin hat Deutschland erst mit Lena diese Idee übernommen. Und es hat funktioniert.
3. Musikstile
Der Variantenreichtum von Stilen ist unfassbar groß. Wer sich bereits mit den ersten Ausgaben des ESC aus den 50-er und 60-er Jahren beschäftigt, wird Unfassbares entdecken, wiederentdecken, lieben und hassen. Sanremo – die Mutter des ESC – war immer auch italienische Vorentscheidung und man hört plötzlich Evergreens wie „Quando quando quando“ oder „Io che non vivo senza te“ (bekannter als „You Don’t Have To Say You Love Me“). Man hört sich schwedische Schlagersänger an, genau so wie Cornelia Froboess, Matt Monro oder eben Udo Jürgens. Manchmal auch in der japanisch gesungenen Version. Herrlich! Und auch heute noch: Metal, Indie-Rock, Balladen und Ethno-Trash wechseln sich ab und eröffnen ein Kaleidoskop. Das gibt’s sonst einfach nirgends.
4. Sprachen
Die Sprachregelung ist beim ESC ein immer noch heiß diskutierte Sache. Und ehrlich: Ich vermisse die Regel, die bis 1998 galt und dass nur offizielle Sprachen eines Landes gesungen werden dürfen. Denn mit Sprachen beschäftigen ist auch beim ESC wunderbar möglich. Vor allem wenn diese Sprachen in einer Sprache verpackt werden, die überall verstanden wird: Musik.
5. Der Homo-Faktor
Der ESC ist ein Event der Lesben und Schwulen. Das ist er aber eben nicht ausschließlich. Die homosexuellen Fans dominieren zwar, haben aber selbst gar keine Lust, den Event als solchen einzuordnen oder den ESC darauf reduzieren zu lassen. Auch die Lesben und Schwulen wollen, dass der ESC eine Party für alle ist! Politische Okkupation (oft mehr als berechtigt!) lesbisch-schwuler Gruppen hat nie so richtig funktioniert. Als 2009 in Moskau eine verbotene Gay Pride den ESC nutzen wollte, um auf sich aufmerksam zu machen, ging das eigentlich in die Hose. Kaum ein ESC Fan ging hin. Das war aber nicht politisches Desinteresse, sondern liegt im Selbstverständnis des ESC: Wenn albanische Familien, türkische Ehemänner mit Frauen, norwegische Teenies, schwule Bären aus Barcelona, eine Lesbengruppe aus Holland und kreischende Tunten aus Deutschland gemeinsam eine Party feiern, trägt der ESC vielleicht mehr zu einem Miteinander bei, als es ein Gay Pride je tun kann. Das sind so die magischen Momente, die man vor Ort erlebt.

6. Migration
Migrant_innen, deren Sprachen und Musikstile, die etwa bei uns auf Wiens Straßen und Nachtclubs Einzug gehalten haben, werden auf der Bühne dargebracht und in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten gezeigt. Das passiert ja eigentlich so gut wie nie – außer vielleicht auf Okto. Dieser Aspekt wurde bisher nur beim „Diaspora-Voting“ sichtbar – etwa, dass Länder wie Deutschland oder Österreich beim Voting traditionell der Türkei und Serbien viele Punkte geben (was seit Wiedereinführung der Juries und ihrer 50{6f8c26ad3fabc3ab9e5403d0d68a89bc5a2f8a366172fd8ffa8095b282dbc8a7}-igen Einflussnahme auf das Endergebnis ohnehin wieder weniger bedeutend wurde). Positive Aspekte diesbezüglich werden noch viel zu wenig wahrgenommen und gesehen. Bzw. gehört.
Ich könnte jetzt noch viel mehr ausführen – etwa, dass man sich einmal im Jahr mit unzähligen Freunden und Freundinnen aus allen möglichen Ländern trifft, dass man in einer ESC Host-City die Schwulenbars nicht mehr wiedererkennt und was da lost ist, wie wunderbar es ist Städte kennenzulernen, in die man wohl sonst nicht fahren würde (Ehrlich: Düsseldorf stand nie auf meiner Liste!) – und und und….

Ja, der Eurovision Song Contest. Wenn es ihn nicht gäbe, man müsste ihn erfinden. Es gibt ihn aber mittlerweile seit 1956! Diese TV-Tradition ist ja auch nicht nichts….
Aber jetzt halte ich Nadine Beiler die Daumen. Jawohl!

Foto: Türkische Fans, israelische Fans und ich mit isländischer Fahne machen Party in Oslo, Mai 2010

Meine drei Lieblingsliebeslieder

Man mag Valentinstag hassen, ignorieren oder feiern: Die Liebe ist ja an sich was Schönes und beschäftigt uns seit es Menschen gibt. Wir schreiben darüber Romane und Gedichte, malten Gemälde und in der Musik spielt die Liebe immer noch die Hauptrolle aller Themen, die je besungen wurden.
Meine drei Lieblingsliebeslieder sind eine subjektive Momentaufnahme, aber ich habe länger darüber nachgedacht:
Platz 3
Jane Birkin & Serge Gainsbourg – Je t’aime… moi n’on plus

Dieses Lied ist so alt wie ich. Als das Lied 1969 erschien war es ein Skandal, was die Verkaufszahlen nur noch mehr steigern ließ. Was ich an diesem Lied so mag: Einerseits war es ein Tabubruch in Zeiten der sexuellen Befreiung. Kaum ein anderer Song zeigt so eindringlich, dass es in der Liebe nicht nur um romantische Gefühle, Blumensträuße und Händchenhalten, sondern eben auch um Sex geht. Andererseits bricht das Lied die Kombination Sex und Liebe ironisch. Schon der Titel lautet ja „Ich liebe dich… ich dich auch nicht“. Manchmal handelt es sich vielleicht doch mehr um Geilheit und weniger um Liebe, aber allzu schnell rutscht einem ein „Ich liebe dich“ raus. Maintenant, viens!

Platz 2
The Smiths – There Is A Light That Never Goes Out
The Smiths waren und sind meine größten Heroen. Das war in meiner Jugend so und stimmt auch jetzt noch. Die Kombination Johnny Marr und Morrissey sind für mich unerreicht, sowohl was die Lied-Kompositionen angeht, als auch die Gitarren-Stimmen-Kombination. Dieses Lied aus dem Jahr 1986 definiert Liebe als etwas so starkes, dass man sogar an jemandes Seite sterben möchte.

Platz 1
Toon Hermans – Lente me
Bitte hört euch das an, auch wenn ihr kein Niederländisch könnt. Gebt dem Lied eine Chance. Vieles dürfte auch für Deutschsprachige zu verstehen sein. Es ist schwer zu erklären, wer Toon Hermans (1916-2000) ist und was er alles kann, wenn man ihn nicht kennt. Conférencier, Kabarettist, Sänger, Komponist, und so vieles mehr. Trotzdem trifft keines dieser Begriffe sein Können nur annähernd. Man lacht sich über seine Komik kaputt, und trotzdem bleiben die Geschichten zeitlos und poetisch. Er schrieb auch Lieder, und Lente me ist eines seiner bekanntesten.
Übersetzbar ist Lente me schon recht schwer. Frühling wird als Verb benützt, also heißt es ungefähr „Ich frühlinge dich“. Und so geht das Lied weiter: „Ich sing dich, ich refrain dich“ heißt es zu Anfang an und die Liebe durchdringt das ganze Leben (Lente me, zomer me, september me), jedes Kunstwerk, das man betrachtet (Ik Rembrandt en ik Breughel je) und was man so alles zu sich nimmt (Ik koffie je en ik thee je).
Nachdem Toon Hermans Frau starb, konnte er dieses Lied nicht mehr singen, weil er sonst in Tränen ausbrechen würde. Vermutlich sagt das alles…
Entschuldigt die kurze Werbung vorab, sollte sie bei euch auftauchen. Das Lied ist nicht mehr auf YouTube zu finden.
Link:

Sind die arabischen Aufstände tatsächlich nur ein arabisches Phänomen?

Seit Wochen hält die Welt den Atem an und schaut in die arabische Welt – und Al Jazeera. Vor einem Jahr hätte sich wohl niemand getraut Aufstände in Tunesien, Ägypten, Jordanien, Jemen, usw. vorauszusagen. Am 14. Februar werden auch im Iran Demonstrationen angekündigt, auch in Gaza hat die Jugend die Schnauze voll und formiert sich.
Vor allem die westliche Welt ist sich sehr unsicher, wie mit den Aufständen umgegangen werden soll und agiert dementsprechend ratlos. Zudem wird offenbar, dass die arabische Welt doch vielfältiger und pluralistischer ist, als wir immer dachten. Die autoritären und repressiven Staaten waren ein Garant für die Sicherheit in der Region und in der Welt. Und selbstverständlich spielt vollkommen zurecht die Sicherheit des von vielen Seiten bedrohten jüdischen Staates Israel eine Rolle. Daher waren die Ansprechpartner vorwiegend staatliche Führungsebenen. Diese erkannten spätestens seit den Ereignissen von 9/11: Der Westen hat Angst vor Islamismus und Terrorismus. Das können wir nützen, um unsere Macht abzusichern. Sehr bald setzte sich das Bild fest: Entweder schlucken wir die Krot und unterstützen undemokratische und repressive Regimes oder der Islamismus siegt in der Region. Mehr Parteien schien es gar nicht zu geben. Auch ich habe diese Sorge noch immer nicht ganz ablegen können, und denke freilich auch an die Sicherheit Israels. Doch auf den Demonstrationen zeigten sich Menschen, die wir gar nicht erwartet hatten.
Dann kam Tunesien.
Tunesien ist – wie zahlreiche Medien und Kommentator_innen immer wieder betonten – ein reicheres und traditionell säkulares Land. So war auch die Revolution und der Umbau des Staates ein bislang erfolgreicher. Das Land will zur Überraschung vieler die Menschenrechtsverträge anerkennen und erste Meldungen besagen, dass die Todesstrafe abgeschafft werden soll.. Aber! – so warnten viele Meinungsmacher_innen – Aber, Ägypten ist nicht Tunesien, die arabische Welt schon gar nicht. Doch immerhin kann Tunesien als Beispiel dienen: Vonwegen entweder Repression oder Islamismus – es gibt einen anderen Weg!
In Ägypten war es ebenfalls vor allem die Jugend, die sich organisierte. Die Facebook-Gruppe 6th of April Youth Movement war die Initialzündung um dem tunesischen Vorbild zu folgen. Traditionelle Parteien, wie etwa die Muslimbruderschaft, sprangen relativ spät auf den Zug auf. Dass sich al Kaida erst jetzt – Wochen später – dazu äußert, drückt auch deren Ohnmacht aus. Mit diesem Aufstand der Jugend hatten sie nicht gerechnet und konnte die Bewegung nicht für sich nutzen. Wer zu spät kommt, den straft bekanntlich das Leben. Das wissen wir in Europa bekanntlich seit 1989.
Sind die Aufstände in der arabischen Welt also eine Jugendbewegung? Wohl nicht nur. Die Jugend war es aber, die allem voran die Schnauze voll hatte, von den Repressionen und dem autoritären Regime. Es war die Jugend, die Verantwortung übernahm und sich an die Spitze einer Protestbewegung stellte. Und viele Ägypter und Ägypterinnen folgten der Jugend und war sofort dabei. Die Botschaft war nicht nur der Wunsch nach dem Ende eines Diktators. Es war und ist vor allem der Wunsch nach einer demokratischen Gesellschaft, die sich wieder um die Zukunft kümmert, um die jungen Menschen im Land, um Bildung und Gerechtigkeit.
So zumindest mein primärer Eindruck.
Vergleichbar mit #unibrennt?
Dass die Jugend sich organisiert und lautstark einfordert, dass sich Politik und Gesellschaft wieder vermehrt um Bildung, Zukunftschancen und Perspektiven der jungen Generation kümmern soll, dass sich die Politik nicht nur um eigenes Parteien-Klientel und nicht nur in Fünfjahres-Perspektiven von Wahl zu Wahl denken und handeln soll, waren Hauptbotschaften der österreichischen (und im Ausland übernommenen) Forderungen der #unibrennt Bewegung.
Ist das vergleichbar? Sind die demonstrierenden Menschen am Midan Tahrir vergleichbar mit den österreichischen Studenten und Studentinnen? Ich meine: Ja, durchaus.
Beides organisierte sich ohne Dachorganisation und vorerst vor allem im Internet, durchdrang aber schlussendlich auch gesellschaftliche Gruppen, die nicht in sozialen Medien aktiv sind. Die Demonstrationen fanden vorerst ohne Parteien, ohne Führer_innen und ohne tragende Initiativen statt. Diese setzten sich erst später drauf und waren höchstens Unterstützer_innen. In zahlreichen Kommentaren wurde auch der Zusammenhang zwischen Wikileaks und der tunesischen Jasminrevolution hergestellt.
Organisationslosigkeit
Gleichzeitig wird hier möglicherweise auch das Problem aller Bewegungen sichtbar: In unserer Auffassung und Tradition einer Demokratie sind es immer organisierte Gruppen und Interessensvertretungen, die benötigt werden, um schlussendlich etwas zu erreichen – und am Ende in einer Parteiendemokratie auch wählbar zu werden. Diese Bewegungen pfeifen aber auf die bekannten Organisationen. #unibrennt wahrte Distanz zur Österreichischen Hochschülerschaft. Die am Midan Tahrir harrenden Mengen ignorierten ElBaradei mehr, als dass sie ihn feierten, die Muslimbruderschaft versucht ihre Rolle in der Revolution immer noch zu finden und scheint mehr mit inneren Spaltungen beschäftigt zu sein.
Bei den Verhandlungen über eine neue ägyptische Verfassung wird dieses Problem sichtbar: Es sind dann doch Interessensvertretungen, Parteien und Gruppen, die sich an diesem Prozess beteiligen. Doch wer vertritt die Jugendbewegung? Als #unibrennt verhandeln wollte, stellten sich verantwortliche Politiker und Politikerinnen ratlos die Frage: Wit wem sollen wir denn eigentlich verhandeln? Wer ist Sprecher und Sprecherin der Bewegung?
Die Demokratie 2.0 (wenn ich das mal so nennen darf) und unsere klassische Parteiendemokratie hat noch keinen Weg gefunden, miteinander in Dialog zu treten.
Mehrheit der Jugend und repressive Regimes.
Zwei wesentliche Punkte unterscheiden jedoch die arabische Welt von Europa. In Ägypten stellt die Jugend zum Beispiel eine Mehrheit der Bevölkerung. Diese Jugend wurde jedoch bisher nicht gehört. Sie war keine internationale Ansprechpartnerin war und hat sich erst jetzt lautstark bemerkbar gemacht. Zum ersten Mal in ihrem Leben spielt sie eine tragende Rolle. In Europa ist die Jugend in der Alterspyramide eine Minderheit, die 50+ Generation hat die absolute Mehrheit inne. Das ist sicher ein wesentlicher Unterschied.
Der zweite Unterschied: Westeuropäische Demokratien sind in Repression und Unterdrückung nicht mit den arabischen Regimes vergleichbar, auch wenn in Ländern wie Ungarn oder Italien Tendenzen in autoritäre und undemokratische Strukturen besorgniserregend sichtbar werden. Trotzdem waren die arabischen Regimes einfach zeithistorisch „fällig“.
Demokratie 2.0 – hat das Zukunft?
Haben Demonstrationen und Aufstände, ja Revolutionen und Regimestürze in einer losen organisations- und führungslosen Form überhaupt Zukunft?
Es liegt wohl an die Generation 2.0 selbst, ob demokratische Alternativmodelle zu unserer gewohnten Parteiendemokratie entwickelt werden. Noch fehlen diese, wie man aktuell in Ägypten beobachten kann. Doch würde das gelingen, dann könnte die Demokratie der Zukunft sehr anders aussehen. Und es liegt wohl auch an den jetzt existierenden Parteien, Sozialpartnerschaften und Interessensvertretungen, ob eine neue demokratische Bewegung, die sich zunehmend im Internet formiert, wahrgenommen und ernst genommen wird, oder ob sich bald zwei unterschiedliche demokratische Modelle als Gegner gegenüberstehen.

LINK:
Anleitung zum Volksaufstand von Susanne Zöhrer auf zurPolitik.com denkt in eine ähnliche Richtung.

32 Postkarten – Erinnerungskultur im Internet

Wie gehen wir mit Geschichte um? Wie können Geschichten erzählt werden, die vergangen sind, aber heute noch von Bedeutung sind? Wie vermittelt man Gräuel und Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus? Diese Fragen beschäftigen viele Menschen – immer noch. In diesen Diskussionen werden dann viele Fragen gestellt. Zum Beispiel: Wie und wo könnte ein Mahnmal stehen, eine Tafel angebracht werden oder ein Stolperstein in eine Straße eingelassen werden?

 
Es gibt aber einen Ort, in dem Erinnerungskultur sehr gut vermittelt werden kann: Das Internet. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Projekt 32 Postkarten.
Torkel S. Wächter ist schwedischer Schriftsteller und entstammt einer Hamburger jüdischen Familie. Sein Vater, Walter Wächter, befand sich in der Zeit des NS-Regimes drei Jahre in Haft und floh 1940 nach Schweden. Seine Eltern blieben in Hamburg und schickten dem Sohn 1940 und 1941 32 Postkarten. Später wurden seine in Deutschland verbliebenen Verwandte deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. In Schweden war Walter Mitglied der linkszionistischen Gruppe Hechaluz und plante eigentlich nach Palästina auszuwandern. Nach dem Krieg wurde im Hause Wächter kein Deutsch mehr gesprochen, über die Vergangenheit wurde geschwiegen. Für die Kinder, die mehr über die Vergangenheit ihrer Familie und ihrer Wurzeln wissen wollten, also eine schwierige Sache.
Auf dem Dachboden fand Torkel S. Wächter die 32 Postkarten, die seine Großeltern seinem Vater geschickt hatten.
Die Postkarten sind auf vorbildlicher Weise ins Web gestellt worden. Jede Postkarte wird in Echtzeit – allerdings 70 Jahre danach – online gestellt. Eine Postkarte beinhaltet den Originaltext (Deutsch und Englisch), einen Kommentar, der die Hintergründe erklärt (ebenfalls zweisprachig) sowie Faksimiles der handgeschriebenen Karten.
Wann erscheint die nächste Postkarte? Das wird ebenfalls auf der Website gefragt. Wer sich in den Newsletter einträgt, wird per Email informiert, wann die nächste Karte veröffentlicht wird – genau 70 Jahre nach dem Original. Bisher sind 14 veröffentlicht.
Zusätzliche Informationen auf der Website – Biografien zu einzelnen Familienmitglieder, alte Familienfotos, Presse-Echo usw. – vervollständigen das Bild der Familie Wächter.
Das Internet als Ort der Erinnerung! Hier wurde dieses Konzept exemplarisch umgesetzt.

Vergleiche Blogpost März 2009: Gedenken im Internet. Eine Ausstellung über den 10. Mai 1940.
LINK: 32 Postkarten

 

Lieber Herr Lauda!

In der Tageszeitung Österreich beklagen Sie sich, Herr Lauda, über Alfons Haider. Grund ist Haiders Plan, in der ORF Sendung Dancing Stars mit einem Mann zu tanzen. Sie wollen sich nicht dafür entschuldigen müssen, heterosexuell zu sein. Außerdem wollen Sie Ihre Kinder beschützen, die sich sowas nicht ansehen sollen. In unserer Kultur würden nämlich Männer mit Frauen tanzen, und das sei schon immer so gewesen.
Im Web wird darüber schon herzhaft diskutiert, gelästert, gelacht und sich empört. Auf Twitter postete etwa User bassena ein lustiges Schuhplattler-Foto mit tanzenden Männern (Ausschnitt links). Ja, es tanzten auch Männer mit Männer. Und Frauen mit Frauen.
Aber nun zu Ihren Aussagen, Herr Lauda.

Sie sagen: Ich bin empört, dass sich der öffentlich-rechtliche ORF, der ja von unser aller Gebühren finanziert wird, aus reiner Quotengeilheit dafür hergibt, schwules Tanzen zu propagieren.
 
Nun, ich bin auch empört, denn mir wäre nicht bekannt, dass Lesben und Schwule von den Rundfunkgebühren befreit wären. Und Sie haben erst recht, wenn Sie gleichzeitig fordern würden, dass nur noch Heterosexuelle Gebühren bezahlen sollen! Und zudem könnte man die Frage stellen, wieso der ORF noch die Formel 1 überträgt und Menschen wie Sie überhaupt zu Berühmtheit verhilft. Immerhin ist in Zeiten des Klimawandels das Propagieren von CO2 kein wirklicher öffentlich-rechtlicher Auftrag. Und das alles nur wegen der Quotengeilheit! Sollten aber auch Lesben und Schwulen weiterhin ORF-Gebühren bezahlen sollen, so dürfen Sie auch vorkommen. Wenn ich die Prozentzahl sogar mal ganz weit unten ansetze, müssten also von 100 tanzenden Paaren mindestens 5 gleichgeschlechtlich sein.

Sie sagen: Bald kommt die Zeit, da werden wir uns noch alle öffentlich dafür entschuldigen, dass wir heterosexuell sind.
 
Das tut mir leid, dass Sie das Gefühl haben, sich dafür entschuldigen zu müssen. Also meinetwegen brauchen Sie sich echt nicht zu entschuldigen. Ich finde Heterosexualität ja vollkommen natürlich und respektiere das. Denn wir Lesben und Schwule kennen das Gefühl. Wir müssen schon seit Jahrhunderten verleugnen, entschuldigen, die Beichte ablegen oder wurden deshalb einst interniert und getötet (in vielen Ländern der Erde ist das heute noch so). Zudem sind es nach wie vor vorwiegend Heterosexuelle, die Lesben und Schwule in die Welt setzen.

 

 

 

Sie sagen: Ich will nicht, dass meine Kinder im ORF sehen, dass ein Mann mit einem Mann tanzt – und dass sie glauben, das nachmachen zu müssen.
Tja, Sie überschätzen wohl die Macht des Fernsehens. Und die Macht des Vaters. Weder Sie noch der ORF werden beeinflussen können ob Ihre Kinder schwul, lesbisch, bisexuell, transsexuell oder heterosexuell sind bzw. werden. Und wären Sie ein guter Vater, würden Sie Ihre Kinder einfach die Freiheit geben, ihre Identität selbst zu entdecken. Damit das wiederum funktioniert, kann ein verständnisvoller Vater seinen Kindern auch erklären, dass die Welt bunt und vielfältig ist. Außerdem: Darf der ORF bald auch nicht mehr über Verbrechen wie Fritzl oder Kampusch berichten? Kinder könnten dann ja meinen, die Heterosexualität sei etwas ganz, ganz Schreckliches. Quasi Werbung für Homosexualität.
 
Sie sagen: Ich fordere, dass der Herr Generaldirektor Alex Wrabetz, der ja in aufrechter Ehe lebt, diese schwule Tanz-Nummer stoppt – und dass man dem PR-geilen Alfons Haider nicht gestattet, im öffentlich-rechtlichen ORF eine schwule Show abzuziehen. Und ich fordere, dass auch der Stiftungsrat und die Politiker hier ein klares Wort sprechen.
Was wäre wenn Wrabetz mit einem Mann verheiratet wäre? Nur mal theoretisch angedacht. Würde das alleine reichen, dass er kein Generaldirektor werden darf? Und was werfen gerade Sie Alfons Haider eigentlich vor? Sie beide leben ja von der Seitenblicke-Gesellschaft und von der ORF-Quotengeilheit. Sie haben mehr gemeinsam, als Sie glauben! Und ich fordere nicht, sondern bitte den ORF Stiftungsrat und meinetwegen auch Politiker und Politikerinnen um ein klares Wort: Dass nämlich ein öffentlich-rechtlicher Sender die Vielfalt der Gesellschaft auch zu repräsentieren hat.
Sie sagen: Es tanzt ja nirgendwo ein Mann mit einem Mann – in keiner Disco, auf keinem Ball –, nur im ORF, weil der damit Quote schinden will.
Wie schon oben angedeutet. Schauen Sie sich mal so einige Schuhplattler an! Oder waren Sie schon mal am Regenbogenball? Oder haben Sie WIRKLICH nie Frauenpaare tanzen sehen? Sind Sie blind? Eh eine gute Nebenfrage: Hätten Sie auch etwas gegen zwei tanzende Frauen? Oder wäre das eh geile Quotengeilheit?

 

 

 
Sie sagen: Ich habe überhaupt nichts gegen Homosexuelle. Im Gegenteil. Ich habe jede Menge Schwule in meiner Fly Niki angestellt, sogar als Ausbildner.
Tja, und was sollen diese Ihre Mitarbeiter (gibt es eigentlich auch Lesben in Ihrer Gedankenkonstruktion?) nun von Ihnen denken? Nebenfrage: Gelten in Ihren internen Betriebsvereinbarungen eigentlich die selben Rechte und Pflichten bei Ehe und Eingetragener Partnerschaft? Würde mich nur mal interessieren.
Sie sagen: Ich befürchte eben, dass der ORF das in seiner Quotensucht zum Trend hochstilisiert. Und ich will nicht, dass tanzende Schwule wie Alfons Haider Vorbild für die Jugend sind. Ich will auch nicht, dass ich mich eines Tages dafür entschuldigen muss, dass ich heterosexuell bin.
 

 

 

Keine Sorge, Herr Lauda! Es gibt viele, die meinen, dass ein Herr Lauda kein Vorbild für die Jugend ist. Denn Vorurteile sind von vorgestern. Sie müssen sich auch nicht für Ihre Heterosexualität entschuldigen. Aber für Ihre dämlichen Aussagen sollten Sie das allemal tun!
 

 

 

Zum Schluss noch: Was, wenn der Tanzpartner von Alfons Haider heterosexuell ist, aber einfach weniger Probleme damit hat, als Sie, Herr Lauda?
 
Alle Zitate aus besagtem Österreich-Interview. Foto: Ausschnitt von einem Foto von der Website des Traminerhofs